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1435.

Zwischen 1825 und 1832.

Mit den russischen Grafen S.

Ich kann nicht sagen, daß ich in der Stimmung war, einem großen Manne meine Huldigung zu bringen, als ich wenige Stunden nach meiner Ankunft in Weimar unsere Karten im Hause des Geheimrath v. Goethe abgeben ließ. Von Natur ernst und – ich sage es unbefangen – nicht ohne angeborenen Stolz hielt ich es stets für eine Art Erniedrigung, Männern, welche weder unsere Herren, noch unsere Wohlthäter sind, eine Ehrfurcht zu erweisen, welche sich bloß auf ihre Talente oder allgemeinen Verdienste bezieht. Ebensowenig möchte ich solche Huldigung empfangen, wenn ich durch etwas anderes ausgezeichnet wäre, als meine äußeren Verhältnisse, welche die Gaben zufälligen Glückes sind, und zwar nicht minder, als alle große Talente und Naturgaben. Zudem haben mir Goethes Werke nie ein, der Verehrung ähnliches Gefühl eingeflößt. Seine kernhaften Gedanken, seine muntere Laune, sein tiefer Blick in die menschliche Natur haben oft einen lauten, beifälligen Zuruf in meiner Brust erweckt, aber dieser Beifall hatte wenig Schmeichelhaftes für die Menschheit, und mein Wohlgefallen erstreckte sich nur auf wenige seiner Werke. Die meisten übrigen, besonders die so berufenen ›Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre‹ waren mir immer höchst zuwider. Goethe ist bewunderswürdig, wo er sich concentrirt in Sprache und Auffassung seines Gegenstandes, wie im ›Faust‹ zwar erinnert er da stark an Shakespeare's unnachahmliches Vorbild, aber es bleibt uns dennoch eine große Eigenthümlichkeit übrig, welche seine Erscheinung weltbedeutend macht. Breitet er sich aber aus und fängt er an zu zergliedern, auszumalen und zu umrahmen, da ward mir seine weitschweifig kalte Behaglichkeit, womit er sich selbst anhört, sein unredliches Gespinnst von unbedeutenden Gedankenfasern, seine Goldschlägerarbeit von nachgeahmten und nachgefühlten Empfindungen in hohem Grabe widerlich. Zwar hörte ich die Deutschen gerade diese Gegenstände meines Mißfallens häufig mit hyperbolischen Redensarten anrühmen, allein ich habe die nationale Empfindelei der Deutschen zu genau kennen gelernt, um mich durch ihren Widerspruch verleiten zu lassen. Kein anderes Volk der Welt vermöchte dieses geistreiche und empfindsame Gefasel seiner Dichter zu genießen, und der triftigste Beweis davon ist, daß es wirklich in keine fremde Sprache übersetzt worden .... Bei diesen Ansichten von Goethes Schriften war ich natürlich, obgleich ich diesen großen Geist hochachte, weit entfernt von dem Enthusiasmus und der Bewunderung, womit, wie ich oft Gelegenheit hatte wahrzunehmen, eine eigene Secte von exaltirten Verehrern dieser Nationalgottheit sich bemerkbar machte. Man hieß sie spottweise Goethekoraxe, und ich hatte die Ehre, von den Häuptern dieser literarischen Partei an Goethe dringend empfohlen zu werden. Sie schienen es ernstlich darauf abgesehen zu haben, aus mir Ungläubigem einen Proselyten zu machen, allein zur Zeit war es ihnen noch so wenig gelungen, daß ich nicht sehr verdrüßlich geworden wäre, wenn Goethe meinen Besuch auf irgend eine höfliche Weise abgelehnt hätte. Meine üble Laune war um so vollkommener, da die deutschen Notabilitäten jeder Art selbst von den Fremden, und zwar ganz besonders von diesen, die Beobachtung eines Ceremoniells verlangen, das mir sehr beschwerlich fiel, da ich mich nicht gern aus meinen bequemen Reisekleidern herausbegab. Mein froher Bruder wurde damit leichter fertig, und als uns endlich die Einladung zu Goethe geworden war, parfumirte und frisirte er sich so sorgfältig, als gälte es, einer schönen Frau einen Morgenbesuch zu machen. Nicht ohne Besorgniß, daß uns die Munterkeit Alexei's Unannehmlichkeiten zuziehen könnte, aber in etwas beruhigt durch seine erprobte Erfahrenheit im guten Ton, fuhr ich mit ihm nach der Villa Goethes. Es begleitete uns dahin der Geheimrath B., der mit Goethe in vertrauten Beziehungen stand und, wie es schien, im freundschaftlichen 216 Auftrage des letzteren den Vermittler zwischen der bewundernden Neugierde der Fremden und der Person des Dichters, der so glücklich ist durch seine Stellung im Staate und in der Gesellschaft gleich ausgezeichnet zu sein, abgab ..... Der Empfang unseres ersten Besuchs war sehr förmlich und steif; die Gravität der sächsischen Dienerschaft und der abgemessene Ernst unsers Wirthes selbst ergötzten meines Bruders heitere Laune nicht wenig. Goethes Persönlichkeit ist bekannt; denn seine Bewunderer haben sie so vollkommen beschrieben, daß keinem Fremden darüber etwas zu sagen übrig bleibt. Er galt mit Recht für einen sehr wohlgemachten Mann mit ausdrucksvoller Physiognomie, was aber seine Manieren betrifft, so fand ich sie erst deutsch und weit entfernt von dem feineren liebenswürdigen Hofton, der in meinem Vaterlande in den höchsten Cirkeln herrscht .....

Alexei fand Goethes Stolz für tiefbegründet in seinem ganzen Wesen, was ich, bei tieferer Kenntniß seiner Schriften, bestritt. Ich fand einen ebenso großen Widerspruch in seinem äußerlichen Hochmuth, als in dem Grade der Auszeichnung, die er bei unserm Empfange dem Range russischer Edelherren erwies. Dieser Mensch, dachte ich, kann weder sich selbst so hochachten, daß dadurch sein Stolz gerechtfertigt würde, noch eine solche Verehrung für uns empfinden, deren Rang ohne offenkundiges Verdienst ist. Die Folge zeigte, daß ich Goethe in seinem wahren Charakter erkannte.

217 So nichtssagend und unbedeutend unsere erste Unterhaltung war, so merkwürdig und unvergeßlich war die Unterredung, welche ich bei meinem Abschiedsbesuch hatte. Den Abend vorher sah er bei sich große Gesellschaft, offenbar nur, um seinen einheimischen Verehrern so seltene Vögel sehen zu lassen, als ein Paar Russen aus der Krim, die seine Schriften gelesen und verstanden hatten. Während wir, besonders mein lustiger Bruder Alexei, ihn in das Verhältniß einer merkwürdigen Reisecuriosität setzten, machte er uns mit großer Gewandtheit selbst zum Gegenstande der Neugierde: wir wurden von allen Seiten mit den sonderbarsten Fragen über Sitten und Gebräuche unseres Vaterlandes bestürmt und hatten kaum Athem genug, sie zu beantworten. Die russische ›Despotie‹ ward mit aller Feinheit in Anregung gebracht und alle die kunterbunten Begriffe von unserer Leibeigenschaft und dergleichen ausgekramt. Ich fand in dem gebildeten Kreise zwar sehr Unterrichtete, – und Goethe selbst war es in hohem Grade – allein der Gesichtspunct, unter dem man die Dinge betrachtete, war ein falscher, daher kam es, daß sich zwischen mir und der Gesellschaft ein höflicher Streit entspann, worin ich – mißverstanden von den Fremdlingen – durch mein energisches Nationalgefühl als Vorfechter der verhaßten Leibeigenschaft figurirte, weil ich den patriarchalischen Charakter des russischen Volkslebens zum Verständniß zu bringen mich bemühte.

218 Goethe verhielt sich dabei ziemlich neutral, war aber sichtbar durch unsere Unterhaltung erlustigt und schien sich an unserer Verlegenheit zu weiden. Um mich für diesen Kunstgriff an ihm zu rächen, brachte ich durch eine gewaltsame Wendung das Gespräch auf seine Schriften. Ich fragte ihn geradezu über die kitzlichsten Materien mit einer Unbefangenheit, die mir sogleich über die ganze Gesellschaft ein Übergewicht gab. [ Gräf Nr. 1963: Ich brachte Fragen in Anregung, über welche sich die gelehrten Herren in Deutschland oft wacker gestritten hatten, ohne daß der hohe Meister sich herabgelassen hätte, ihnen aus dem Traum zu helfen. Mein Bruder unterstützte mich hierin in seiner lebhaften, muthwilligen Manier, die, indem sie beleidigte, zugleich versöhnte durch ihre Bonhommie. Wie der ›Westöstliche Diwan‹ zu verstehen sei, was der ›Faust‹ bedeute , welcher philosophische Gedanke seinen Schriften zu Grunde liege – alles dies wurde so offen und rückhaltslos verhandelt, als ob Goethe hundert Meilen von uns entfernt gewesen wäre. Indessen ließ er sich durch diese Indiscretion nicht außer Fassung bringen; denn sie war ihm, wie ich später hörte, keineswegs neu. Er begnügte sich, lächelnd einige Phrasen mit zweideutigem Sinn zu antworten, und überließ das Wort einem anwesenden Professor aus Leipzig oder Jena, dessen Namen ich vergessen habe. Dieser Mensch hatte es sich zum Hauptgeschäfte seines Lebens gemacht, Goethes Schriften zu interpretiren, und machte nun die umfassendsten Anstalten zu Beantwortung unserer Fragen. Er bewerkstelligte dies mit einem solchen Aufwand unverständlicher Floskeln, philosophischer Kunstausdrücke und gelehrter Gemeinplätze, daß jeder andere Fremde dadurch consternirt werden müßte. Es schien mir nicht unwahrscheinlich, daß Goethe, welcher diesen unleidlichen Schwätzer mit dem beifälligsten Lächeln aufmunterte, sich dessen bediente, um zudringliche Frager abzufertigen, ohne sich selbst auszusetzen. In der That war das Werkzeug zu diesem Zwecke trefflich gewählt; denn es war ebenso schwer, bei dem Geschnarre dieser Disputirmaschine zu Worte zu kommen, als ihr entsprechenderweise zu antworten, wenn man nicht die schwere Menge von Büchern und Journalen gelesen hatte, deren Geist in dem Doctor wohnte. Da ich nichts von seinem Gewäsch verstand, so bat ich ihn mit der Miene der Erbauung, mir den Sinn seiner langen Rede in französischer Sprache auszudrücken, da ich nicht so glücklich sei, mit der neuen Bereicherung der deutschen Sprache durch Tausende corrupter Worte aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen, namentlich mit den terminis technicis der Berliner Philosophie allzuinnig vertraut zu sein, allein der gelehrte Commentator und Panegyriker von Profession erklärte mir rund: man könne in seiner andern Sprache als der deutschen über den großen Meister raisonniren. Während ich mich über diese Behauptung mit allem Anstand moquirte, hatte Goethe das Zimmer verlassen, 220 allein ich bin überzeugt, daß er aus einem Seitengemach den Schluß meiner Unterredung mit dem Doctor belauscht hat. Ich beendigte den Streit mit der Erklärung, daß es unmöglich sei sich zu verständigen, wenn die streitenden Partheien von so ganz entgegengesetzten Ansichten ausgingen; denn so überzeugt der gelehrte Herr Professor sei, daß fremde Nationen Goethes Genie und philosophisch-moralischen Einfluß auf sein Zeitalter gar nicht beurtheilen können, so geneigt sei ich mit Lord Byron und seinen Landsleuten zu glauben, daß Goethe von keiner Nation in der Welt so vollkommen mißverstanden worden sei, als von der deutschen.

Kaum hatte ich in Demuth diese kühne Behauptung ausgesprochen, als Goethe mit unbefangener, aber ernster Miene eintrat und die Gesellschaft einlud, sich in ein anderes Zimmer zum Souper zu begeben. Sein Betragen gegen mich schien einige Gereiztheit über das üble Compliment, das ich dem deutschen Volke gemacht, auszudrücken, doch sandte er mir, wie verstohlen, zuweilen Blicke zu, die mir keinen Groll merken ließen; demungeachtet wollte die Unterhaltung nicht mehr ungezwungen werden und ich entfernte mich in der Meinung, daß ich die Gesellschaft und insbesondere den Wirth und beider Nationalgefühl beleidigt hätte. Allein ich wurde bald enttäuscht, und wie ich später Gelegenheit hatte, viele einzelne aus der Gesellschaft zu sprechen, fand ich zu meinem großen Erstaunen, daß eine Äußerung 221 von der Art, wie sie mir in Rußland, Frankreich, England nicht viel geringer, als eine tödtliche Beleidigung angerechnet worden wäre, vielleicht dem anmaßenden Professor allein unangenehm gewesen sei. Alle übrigen versicherten mich, daß leider in meiner Behauptung Wahrheit läge, nur machte ein jeder zu eigenen Gunsten eine Ausnahme. Ich muß jedoch gestehen, daß ich es lieber gesehen hätte, wenn sie selbst ihre nationalen Irrthümer gegen den Fremden vertheidigt hätten.

Den nächstfolgenden Morgen erhielt ich von Goethes Hand ein, mit meinem Tauf- und Familiennamen adressirtes Billet, worin er mich in sehr verbindlichen Ausdrücken zu einer Spazierfahrt einlud. Obwohl durch diese unerwartete Höflichkeit überrascht, nahm ich doch die Einladung an und befand mich eine Stunde später mit dem großen Manne allein in einer Chaise. Es war ein herrlicher Morgen und der rüstige Greis zeigte sich von der belebenden Lenzluft jugendlich erfrischt. Sein Gesicht war von ungewöhnlicher Heiterkeit überstrahlt und sein Auge glänzte von der innern Lebendigkeit, die bei seinem hohen Alter nur von seiner mannhaften Gelassenheit gemäßigt wurde. Als er mich begrüßte, sagte er mit vertraulicher Galanterie zu mir: »Herr Graf! Sie haben gestern mit vieler Nachlässigkeit einige Kostbarkeiten fallen lassen, womit wir Deutsche besser hauszuhalten pflegen, und die mich auf die nähere Bekanntschaft eines so reichen Mannes sehr begierig machten.« Und auf welchen Reichthum meinerseits bezieht sich Ihr Interesse, Herr Geheimrath? fragte ich dagegen. »Auf den Ihrer Ideen,« erwiederte er. Ich dankte mit einer Verbeugung für das Compliment, das mir nicht hinlänglich motivirt schien. »Ohne Schmeichelei, Herr Graf!« fuhr er fort, indem er dem Ausdruck meiner Gedanken zuvorkam; »ich habe oft Gelegenheit zwischen den Beifallsbezeigungen alltäglicher Menschen und der allein ehrenden Anerkennung denkender Menschen zu unterscheiden, daß Sie mir ohne Gefahr die Gewandtheit zutrauen können, aus den Unscheinendsten in Sprache und Benehmen den Mann von selbständigem Geiste zu erkennen. Ich befinde mich in dem Falle Voltaire's, der nichts heißer erstrebte, als die Anerkennung derjenigen, die ihm ihren Beifall versagten. Sie werden mir sagen, daß Sie es nicht sind, der mir Beifall versagt, allein schon der äußere Schein einer widersprechenden Gesinnung gegen die öffentliche Meinung – deren Richtigkeit Sie gestern bestritten haben – zeigt mir den Mann von selbständigem Geist und Charakter; denn ein solcher allein wagt es da zu widersprechen, wo alle übrigen einverstanden sind. Ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, ob ich Sie richtig beurtheilt habe.« Ich erwiederte, daß sein Urtheil zu schmeichelhaft sei, als daß ich es schlechthin bestätigen könnte, daß ich jedoch zu einem bescheidenen Zweifel geneigt sei, daß einem so großen Mann im Genuß des Weltruhms die Meinung eines 223 reisenden Cavaliers und alltäglichen Curiositätenjägers auch nur im allergeringsten Grade bedeutend sein könne. An diese Initiative knüpfte sich ein höchst interessantes Gespräch über Berühmtheit, Bedeutung und Schicksal der Goethischen Schriften, in dem sich der Dichter mit einer liebenswürdigen Offenheit herausließ, welche mir die innersten Falten seines Charakters öffnete. Ich habe seine wesentlichen Äußerungen unmittelbar nach dieser Spazierfahrt in der folgenden Weise zusammengetragen mit der Absicht, sie einst der Offentlichkeit zu übergeben, wenn der Tod des Sprechers mich erst der Pflichten der Discretion vollkommen entbunden haben würde.

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Hier sind seine Worte unzusammenhängend, rhapsodisch, verkürzt und so treu, als sie das Gedächtniß wiedergiebt.

»Der Ruhm, mein Herr Graf, ist eine herrliche Seelenkost: sie stärkt und erhebt den Geist, erfrischt das Gemüth; das schwache Menschenherz mag sich daher gern daran erlaben. Aber man gelangt gar bald auf dem Wege der Berühmtheit zur Geringachtung derselben. Die öffentliche Meinung vergöttert Menschen und lästert Götter; sie preist oft die Fehler, worüber wir erröthen, und verhöhnt die Tugenden, welche unser Stolz sind. Glauben Sie mir: der Ruhm ist so verletzend fast, als die Verrufenheit. Seit dreißig Jahren kämpfe ich gegen den Überdruß, und Sie würden ihn 224 begreifen, wenn Sie nur wenige Wochen mit ansehen könnten, wie mich täglich eine Anzahl von Fremden zu bewundern verlangt, wovon viele meine Schriften nicht gelesen haben – wie fast alle Franzosen und Engländer – und die meisten mich nicht verstehen. Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines Lebens ist der Triumph des Reinmenschlichen. Darum entschlage ich mich dessen nie und genieße, was mir das Glück an Ruhm geboten, aber die süßere Frucht ist mir das Verstehen der gesunden Menschheit. Darum schätze ich sogar den Widerspruch derer höher, welche die rein menschliche Bedeutung der Kunst erfassen, als den kränklichen Enthusiasmus der überschwänglichen Dichter unseres Volkes, welche mich mit Phrasen ersticken; darum auch mag ich Ihnen gern die Wahrheit Ihrer Behauptung, daß Deutschland mich nicht verstanden, in bedingter Weise zugestehen. Es waltet in dem deutschen Volke ein Geist sensueller Exaltation, der mich fremdartig anweht: Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben in abstractem Charakter, fern von den Naturquellen, welche sie ernähren sollen. Ich liebe das ächt volkseigene Ideenleben der Deutschen und ergehe mich gern in seinen Irrgängen, aber in steter Begleitung des Lebendignatürlichen. Ich achte das Leben höher, als die Kunst, die es nur verschönert.« –

»Sie haben recht: Byron hat mich vollkommen verstanden, und ich glaube, ihn zu verstehen. Ich schätze sein Urtheil so hoch, als er das meinige ehrte, doch war ich nicht so glücklich, seine Meinung von mir in ihrem ganzen Umfange kennen zu lernen.« Diese Bemerkung, mit einer besondern Betonung gesprochen, klärte mich vollkommen über das Hauptmotiv des Interesses auf, welches Goethe an meiner Unterhaltung zu nehmen schien. Ich hatte den Abend vorher einige Worte über Byron fallen lassen, welche nicht nur meine nähere Bekanntschaft mit diesem merkwürdigen Manne verriethen; sondern auch vermuthen ließen, daß ich seine Meinung von Goethe näher zu erforschen Gelegenheit gehabt. In der That hatte ich in Venedig zu wiederholten Malen das Glück gehabt, Byron's vertraulichen Umgang zu genießen, nachdem es mir mit Mühe gelungen war, sein Vorurtheil gegen alle Russen, das damals durch die griechischen Händel begünstigt wurde, wenigstens zugunsten meiner Person zu beseitigen. Seltsamerweise waren es nicht eben meine guten Eigenschaften, welche ihn mit meiner Nationalität aussöhnten, sondern mein damaliger Charakter eines jungen Wildfangs, der das Leben und die Kunst mit der größten Heißgier ausbeutete, nur um zu genießen, wenig bekümmert um Erweiterung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse. Byron behandelte mich zwar in der Regel ziemlich wie ein ungezogenes Kind, und während seiner Sonderlingslaunen oft mit Rauheit, aber zugleich erwies er mir, dessen Falschheit er zu fürchten keine Ursache hatte, mehr Vertrauen, als irgend einem seiner damaligen Bekannten, die ihn oft aus eigennützigen Beweggründen umschwärmten. Unser Umgang war nicht der gleichgestimmter Kunstverehrer, sondern die Gemeinschaft lebenslustiger Bonvivants, die nie gesättigt werden. Ich lernte aber dadurch viele Particularitäten aus dem Privatleben Byron's kennen, deren Mittheilung an Goethe mit der lebhaftesten Theilnahme aufgenommen wurde und die Selbstcharakteristik meines Wirthes unterbrachen, um sie nur mehr zu vervollständigen. Auch hatte Byron durch seine Gewohnheit, in unsere stehende Unterhaltung über schöne Weiber, welchen wir beide mit Eifer nachstellten, interessante Zwischenreden über die Kunst einzuflechten, mich in das Vertrauen seine literarischen Gesinnungen gezogen und mich so in den Stand gesetzt, Goethes Neugier zu befriedigen. Ich sagte ihm daher, daß ich in der That so glücklich sei, ihm einige Aufschlüsse über Byron's Gesinnungen gegen ihn geben zu können, und gab ihm ein solches Resumé meiner Unterredungen mit Byron über Kunst und Literatur, bei welchem Goethe wirklich sehr oft das Hauptthema war, dessen Beurtheilung Goethe nothwendig in seiner interessanten Selbstcharakteristik weiter führen mußte. Ich ging dabei nicht ganz aufrichtig und uneigennützig zuwerke, und zwar aus Rücksichten des Anstandes und der Schicklichkeit, welche mir nicht erlaubten, mehr, als Byron's Gesinnungen zu hinterbringen; seine Äußerungen hingegen waren meist so beschaffen, daß sie Goethe leicht hatten mißfallen können, obgleich Byron 227 vieles Wohlwollen für ihn gefühlt hat. So sprach er oft von seiner Heuchelei mit vielem Humor, aber wenig Ehrerbietung und sagte einst von ihm: er ist ein alter Fuchs, der nicht aus seinem Bau herausgeht und von da recht anständig predigt. Seine ›Wahlverwandtschaften‹ und ›Werther's Leiden‹ nannte er eine Persiflage der Ehe, wie sie sein dienstbarer Geist Mephistopheles selbst nicht besser hätte schreiben können; der Schluß dieser beiden Romane sei der Gipfel von Ironie. Indessen gab mir die Erinnerung an Byron's Äußerungen über Goethe einen so reichen Stoff zu Schmeicheleien, daß ich ohne Furcht, Goethe zu beleidigen, auch einige Andeutungen über die Abweichung der Meinungen Byron's fallen lassen konnte. Goethe war dadurch so befriedigt, daß er mit einer ungewöhnlichen Wärme die Unterhaltung fortsetzte und den ganzen Tag von dem einen Gegenstande derselben angeregt blieb.

Meine Deutung seiner Philosophie, welche ich ihm bei den vielen Gelegenheiten dazu unverhohlen mittheilte, schien ihm besonders wohl zu gefallen, weil er sie durch Byron's Urtheil, auf das er viel hielt, bestätigt fand. Es kamen Dinge zur Sprache, die Goethe gewiß niemals zu wiederholen gewagt hat. Ich bemerkte ihm diese Vermuthung, und er gestand lächelnd, daß er nicht im Sinne habe, sie Lügen zu strafen. »Aber weil wir einmal im Offenherzigen sind,« sagte er, »so will ich Ihnen nur gestehen, daß ich den Sinn von allem Besprochenen in den Zweiten Theil meines 228 ›Faust‹ gelegt habe und deshalb gewiß bin, daß dieser Schluß nach meinem Tode von meinen Landsleuten für das langweiligste Product meines Lebens wird erklärt werden.« ]

Und wunderbar! Einige Jahre nach dieser Unterredung bekam ich gleichzeitig mit dem zweiten Bande des ›Faust‹ ein angesehenes deutsches Blatt zur Hand, worin es hieß: So wie die physische Erscheinung dieses Buches Goethes körperliches Dasein, so hat der darin wohnende Geist seinen Genius überlebt.

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