1267.
1830, 9. Mai.
Mit Andreas Eduard Kozmian
Auf der Rückreise aus Paris im Jahre 1830 verdankte ich es der gütigen Vermittlung der Frau v. Goethe, daß mir ihr Schwiegervater den Tag und die Stunde bestimmte, da er mich bei sich empfangen wolle, und mich davon mittels folgender Worte benachrichtigte, die er mit Bleistift eigenhändig auf seine Visitenkarte geschrieben hatte: »wünscht, da er heute verhindert ist, Herrn v. Kozmian morgen Sonntags um 12 Uhr bei sich zu sehen.«
Ich verfehlte nicht die Mittagsstunde, welche mir bestimmt worden. In Goethes Wohnung angelangt, fand ich ihn meinen Besuch erwartend in eben jenem Zimmer, worin er das Jahr vorher seine versammelten Gäste empfangen hatte. Als er mich mit einnehmender Freundlichkeit bewillkommt, dankte ich ihm in französischer Sprache – denn in der deutschen fühlte ich mich nicht sicher genug, mit Goethe zu sprechen – für die theuersten Erinnerungen meiner Reise, welche ich ihm zu verdanken hätte.
»Mit Befriedigung sehe ich immer Fremde bei mir, 225 welche mich besuchen wollen,« – erwiederte Goethe auch in französischer Sprache, die er mit Leichtigkeit handhabte. – »Ihre Gesellschaft vertritt gewissermaßen die Annehmlichkeit des Reisens, die ich mir in meinem Alter nicht erlauben darf. Ich unterrede mich mit Ihnen, und so reise ich auch, ohne den Platz zu verlassen. Heute zum Beispiel wandr' ich in Polen« – sagte er lächelnd.
Diese Worte dienten als Einleitung zu einem Gespräche über mein Vaterland, dessen Vergangenheit und Gegenwart, und weiter über seine Literatur. Ich sprach von dem neuen Geiste, von der neuen Richtung der polnischen Literatur und Kritik, von dem Führer der neuen Schule, welchen Goethe vor einigen Monaten in Weimar kennen gelernt hatte.
»Ich bedaure,« sagte Goethe, »daß der Schatz Ihrer ältern und neuern Literatur für mich unerreichbar ist; mit Vergnügen würde ich ihre heutige Entwickelung und die Richtung, welche diese genommen hat, verfolgen. Edel sind solche Bestrebungen, die Literatur national und von den Fesseln der Nachahmung frei zu machen. Mögen aber die jungen Dichter Übertreibungen aus dem Wege gehen! Mögen sie die Fehler und Irrthümer vermeiden, die allen Neophyten eigen sind: mögen sie vor übermäßigem Eifer, vor Fanatismus in ihrem Glauben auf der Hut sein! Mögen sie neue Muster schaffen, jedoch die alten dabei spottender Verachtung nicht preisgeben!«...
»Wie ich glaube,« fuhr Goethe fort, »wird die neu erstehende Schule besonders an nationalen Stoffen Gefallen finden. In alten Geschichten, Überlieferungen, Vorstellungen, sogar Vorurtheilen, wird sie auf Poesie treffen. Jede Nation hat ihre poetische Flur – warum auf fremden nach Blumen suchen, wenn die heimische so üppigen Wuchs darbeut? Auch die Vergangenheit Polens ist reich an Poesie. Seine Geschichte enthält manche Ereignisse, manchen Character, wohl imstande, einen Dichter zu begeistern. So bin ich z.B. erstaunt, daß noch keiner Ihrer Dichter das Leben Kasimir's, ›der Mönch‹ zubenannt, behandelt hat. Man könnte daraus eine Dichtung oder ein historisches Drama voll ergreifender Gemälde bilden. Man muß sich nur diesen Jüngling vorstellen! Die nichtswürdige Mutter hat ihn aus dem Vaterlande entführt, in ihm Haß gegen seine Landsleute und seine Heimath zu erwecken versucht; er, der Krone beraubt, tritt trotz königlichen Geblütes, trotz Jugendreiz und -kraft, auf Drängen eben jener Mutter, ohne Beruf in ein Kloster. Man muß sich seinen Seelenkampf vorstellen, den Kampf religiöser Gefühle mit den sprossenden Leidenschaften der Jugend; wie er diese überwindet und für immer von der Welt scheidet, unter den Ordensbrüdern von Clugny sich verliert, selbst den alten Namen ändert und ein Mönch des elften Jahrhunderts wird. Da widerhallt das Kloster von der Kunde, daß Boten eines fernen Volkes gekommen seien, welche ihren Fürsten suchen. Kasimir, 227 in der klösterlichen Demuth verharrend, wollte sich noch verborgen halten. Die polnischen Abgesandten können ihn unter der zahlreichen Schaar der Mönche nicht erkennen, aber ihre Thränen, ihr Bericht von dem Unglück des Landes erwecken in dem jungen Fürsten neue Gefühle: eine Zähre erglänzt im Auge eines der Mönche und verräth Kasimir; die Abgesandten erkennen ihn. Länger kann er sich nicht verbergen; er beugt das Haupt vor dem Willen Gottes, giebt seinen Namen kund und sieht zu seinen Füßen Krone und Scepter. Allein der Klosterabt weigert sich ihn freizulassen. Es eilen also die Abgesandten nach Rom, bringen vom heiligen Vater die mit bedeutenden Opfern erkaufte Lösung der Gelübde und geleiten den jungen Fürsten zum Throne seiner Väter. Sobald er im Lande erschienen, eilt das gemeine Volk ihm entgegen; Väter, Mütter, Kinder umringen, begrüßen ihn mit Jubel, und er, von höherer Macht unterstützt, schlichtet – kaum daß sein Fuß den Heimathboden berührt – die inneren Zwistigkeiten, zügelt die Feinde, straft die Aufrührer, befestigt Frieden und Ordnung und eröffnet eine Reihe glorreicher Herrscher. Ist dies für eine Dichtung oder für ein historisches Drama kein gar poesiereicher Stoff?«
»Ohne Zweifel« – entgegnete ich – »müßte er, so aufgefaßt und ausgeführt, zu einem schönen Werke werden, allein um daranzugehen bedürfe es der Kraft des Dichters des ›Götz von Berlichingen‹; vielleicht 228 wäre dieser Gegenstand seiner Feder nicht unwürdig?«
»Eine neue, so großartige Arbeit« – sagte Goethe – »könnte ich nicht unternehmen; denn wo ist die Garantie, daß ich sie vollende? Übrigens gehört dieser geschichtliche Stoff von rechtswegen einem polnischen Autor.« – Indem wir über Literatursprachen, fragte mich Goethe nach den neuen französischen Producten. Aufmerksam hörte er meinen Bericht an über die erste Vorstellung des Shakespeare'schen ›Othello‹ in französischer Sprache auf Corneille's und Racine's Bühne, ebenso über die Aufführung von ›Hernani‹ [von Hugo], den er noch nicht kannte.
»Victor Hugo« – sagte Goethe – »besitzt ausgezeichnete Fähigkeiten; ohne Zweifel erneut und erfrischt er die französische Poesie, allein man muß fürchten, daß wenn nicht er, so doch seine Schüler und Nachahmer in der Richtung, welche sie zu schaffen gewagt, zu weit gehen dürften. Die französische Nation ist die Nation der Extreme; sie kennt in nichts Maß. Mit gewaltiger moralischer und physischer Kraft ausgestattet, könnte das französische Volk die Welt heben, wenn es den Centralpunkt zu finden vermöchte, es scheint aber nicht zu wissen, daß wenn man große Lasten heben will, man ihre Mitte auffinden muß. Es ist dies das einzige Volk auf Erden, in dessen Geschichte wir die Bartholomäusnacht und die Feier der ›Vernunft‹, den Despotismus Ludwig's XIV. und die Orgien der Sansculotten, 229 beinahe in demselben Jahre die Einnahme von Moskau und die Capitulation von Paris finden. Somit muß man fürchten, daß auch in der Literatur nach dem Despotismus eines Boileau Zügellosigkeit und Verwerfung aller Gesetze eintrete.«
»Auch ich« – sagte ich – »theile diese Furcht, allein ich kann nicht verschweigen, daß die Formen, die einst imschwange gewesen, heute als Muster nicht mehr dienen können. Die tragischen Werke der französischen Meister lesen wir immer mit Freude, aber auf der Scene dargestellt, interessiren sie das heutige Publicum nicht. Stünde Racine auf, so würde er heute selbst die Fehler vermeiden, welche wir in seinen Werken finden.«
»Glauben Sie mir« – sagte Goethe – »wünschen wir uns einen neuen Racine selbst mit den Fehlern des alten! Die Meisterwerke der französischen Bühne bleiben Meisterwerke für immer. Ihre Darstellung hat mich selbst in jungen Jahren, noch in Frankfurt, höchst interessirt; damals faßte ich zuerst den Gedanken, Dramen zu schreiben. Die heutige Schule kann für die Literatur viel thun, allein niemals soviel, als die frühere gethan hat.«...
Da ich durch längeres Reden die theuern Augenblicke des Dichters nicht in Anspruch nehmen wollte erhob ich mich, um zu gehen, aber Goethe beliebte mich noch zurückzuhalten und that weitere Fragen inbetreff Frankreichs, dessen bedeutenderer Schriftsteller und des Zustandes der Künste. [ Gräf Nr. 1846: Als ich der ausgezeichneten Bilder Scheffer's erwähnte, welche Faust und Gretchen darstellen , fragte er mich, welchen Charakter der Maler ihnen gegeben, ob er des Dichters Absicht verstanden, und ob dies Faust und Gretchen Goethe's oder Scheffer's seien. ]
Nach dieser einstündigen Unterredung nahm ich von dem Dichter Abschied.