177

1240.

1830, 3. Januar.

Mit Johann Peter Eckermann

[ Gräf Nr. 1768: Goethe zeigte mir das englische Taschenbuch ›Keepsake‹ für 1830, mit sehr schönen Kupfern und einigen höchst interessanten Briefen von Lord Byron, die ich zum Nachtisch las. Er selbst hatte derweil die neueste französische Übersetzung seines ›Faust‹ von Gérard zur Hand genommen, worin er blätterte und mitunter zu lesen schien.

»Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den Kopf,« sagte er, »wenn ich bedenke, daß dieses Buch noch jetzt in einer Sprache gilt, in der vor fünfzig Jahren Voltaire geherrscht hat. Sie können sich hierbei nicht denken, was ich mir denke, und haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeitgenossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Biographie nicht deutlich hervor, was diese Männer für einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene Füße in ein wahres Verhältniß zur Natur zu stellen.«

Wir sprachen über Voltaire Ferneres, und Goethe recitirte mir das Gedicht ›Les Systèmes‹, woraus ich mir abnahm, wie sehr er solche Sachen in seiner Jugend mußte studirt und sich angeeignet haben.

178 Die erwähnte Übersetzung von Gérard, obgleich größtentheils in Prosa, lobte Goethe als sehr gelungen. »Im Deutschen,« sagte er, »mag ich den ›Faust‹ nicht mehr lesen, aber in dieser französischen Übersetzung wirkt alles wieder durchaus frisch, neu und geistreich.

Der ›Faust‹,« fuhr er fort, »ist doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstande näher zu bringen, sind vergeblich. Auch muß man bedenken, daß der erste Theil aus einem etwas dunkeln Zustande des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen.« ]