43/114. An Carl Ludwig von Knebel
[ Gräf Nr. 1555: Es ist mir, theurer verehrter Freund, höchst wohlthätig, wenn ich erfahre, daß meine ältesten edelsten Zeitgenossen sich mit Helena beschäftigen, da dieses Werk, ein Erzeugniß vieler Jahre, mir gegenwärtig eben so wunderbar vorkommt als die hohen Bäume in meinem Garten am Stern, welche, doch noch jünger als diese poetische Conception, zu einer Höhe herangewachsen sind, daß ein Wirkliches, welches man selbst verursachte, als ein Wunderbares, Unglaubliches, nicht zu Erlebendes erscheint.
Aus meinem Briefwechsel mit Schiller geht hervor, daß er schon zu Anfang des Jahrhunderts von dieser Arbeit Kenntniß genommen und, als ich darüber in Zweifel gerieth, mich darin fortzufahren ermuthigt habe.
Und so ist es denn bis an die neuste Zeit herauf-, herangewachsen und erst in den letzten Tagen wirklich abgeschlossen worden. Daher denn die Masse von Erfahrung und Reflexion, um einen Hauptpunct versammelt, 167 zu einem Kunstwerk anwachsen mußte, welches, ungeachtet seiner Einheit, dennoch schwer auf einmal zu übersehen ist.
Die rechte Art, ihm beyzukommen, es zu beschauen und zu genießen, ist die, welche du erwählt hast: es nämlich in Gesellschaft mit einem Freunde zu betrachten. Überhaupt ist jedes gemeinsame Anschauen von der größten Wirksamkeit; denn indem ein poetisches Werk für viele geschrieben ist, gehören auch mehrere dazu, um es zu empfangen; da es viele Seiten hat, sollte es auch jederzeit vielseitig angesehen werden.
Mag dein theilnehmender Freund mir seine schriftlich verfaßten Gedanken mittheilen, so sollt es mich freuen und anregen, vielleicht noch ein und das andere Wort offen zu erwidern. Hier sage schließlich nur soviel: die Hauptintention ist klar und das Ganze deutlich; auch das Einzelne wird es seyn und werden, wenn man die Theile nicht an sich betrachten und erklären, sondern in Beziehung auf das Ganze sich verdeutlichen mag. ]
In Erinnerung, daß die deinem Clienten, dem Mahler Durst, für seinen Aufenthalt in Jena ertheilte Vergünstigung mit Michael abgelaufen ist und also solche auf's neue zu erlangen seyn möchte, so übersende Beykommendes, welches dem Herrn Obrist v. Lyncker mit meinen besten Empfehlungen einzuhändigen bitte. Derselbe wird bey genauer Übersicht unsrer gesetzlichen Zustände ermäßigen, ob die ausgesprochenen Bedingungen 168 erfüllt oder auf welche Weise sie zu erfüllen sind, um den jungen Mann und seine Gönner für das nächste Jahr und auf längere Zeit zu beruhigen.
Hegels Gegenwart zugleich mit Zelter war mir von großer Bedeutung und Erquickung. Gegen Letzteren, mit dem ich so viele Jahre in stetigem Verkehr lebe, konnte freylich das Eigenste und Besonderste verhandelt werden; die Unterhaltung mit dem Ersteren jedoch mußte den Wunsch erregen, längere Zeit mit ihm zusammen zu bleiben: denn was bey gedruckten Mittheilungen eines solchen Mannes uns unklar und abstrus erscheint, weil wir solches nicht unmittelbar unserem Bedürfniß aneignen können, das wird im lebendigen Gespräch alsobald unser Eigenthum, weil wir gewahr werden, daß wir in den Grundgedanken und Gesinnungen mit ihm übereinstimmen und man also in beiderseitigem Entwickeln und Aufschließen sich gar wohl annähern und vereinigen könne.
Überdieß habe ich mit ihm, in Ansehung der Chromatik, ein glücklich harmonisches Verhältniß, da er, schon in Nürnberg mit Seebecken zusammenlebend und sich verständigend, in diese Behandlung thätig eingriff und ihr immerfort auch von philosophischer Seite her gewogen und mitwirkend blieb, welches denn auch sogleich förderlich ward, indem man sich über einige wichtige Puncte vollkommen aufklärte. Herr v. Henning lies't indeß die Chromatik in meinem Sinne fort. Freylich wird es noch eine Weile werden, bis 169 man die Vortheile meiner Darstellung allgemeiner einsieht und die Nachtheile des alten verrotteten Wortkrams mit Schaudern einsehen lernt.
Verzeihung dieser schreibseligen Weitläufigkeit: bey'm Entbehren mündlichen Unterhaltens verfällt man zuletzt in diesen Fehler. Tausend Lebewohl!
treu angehörig
Weimar den 14. November 1827.
J. W. v. Goethe.