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43/76. An Sulpiz Boisserée

Hiebey läßt sich ferner die Bemerkung machen, daß dasjenige was ich Weltliteratur nenne dadurch vorzüglich entstehen wird, wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urtheil der übrigen ausgeglichen werden.

Aufgeregt durch vorstehende Werke, zugleich auch durch die mehrfachen Gedichte auf die Verlobung und Abschied und Vermählung unserer theuren Prinzeß kam mir der Gedanke, unsere lebenden weimarischen Dichter auf gleiche Weise zu behandeln, und ich vergegenwärtigte mir schnell ihre Lebensgeschichte, die allgemeine Tendenz, die besondern Talente und die Fähigkeiten der Einzelnen; auch machte das wirklich ein hübsches, nicht ungünstiges Bild und sprach unsere Stellung zu dem jetzigen dichterischen Jahrhundert recht freundlich aus. Dieser flüchtige Gedanke, der mich einige Tage beschäftigte, konnte leider bey soviel Ablenkungen zu keiner weiteren Folge gelangen.

107 Hier hatte ich, durch manche Vorkommenheiten abgelenkt, den Auszug aus meinem Tagebuche stocken lassen. Ihr lieber Brief vom 1. October, so manche vertrauliche Mittheilung enthaltend, regt mich wieder auf und so fahre fort.

Ende May und Anfang Juni war das ununterbrochene Regenwetter für meinen Gartenaufenthalt höchst unerfreulich, doch hätte ich es überstanden und bessere Tage gehofft, wäre nicht die Communication mit der Stadt dadurch höchst beschwerlich geworden; da denn zuletzt die Ankunft des Herren Grafen Sternberg mich entschied, wieder hineinzugehen. Dieser treffliche Mann verweilte bey uns mehrere Tage und die mannichfaltigen Unterhaltungen mit demselben, besonders über naturhistorische Gegenstände, waren höchst förderlich. In unserm Fossilien-Kabinett hatte er die Gefälligkeit, eine schöne vorhandene Sammlung von Pflanzen der Urwelt in Ordnung zu bringen, wodurch sie erst ihren wahren Werth erhielt; auch über böhmische Angelegenheiten, alte und neue, historische und praktische, [gab er] gar vielfache Aufklärung.

[ Gräf Nr. 1541: Hierauf besuchte uns Herr v. Matthisson und zeigte, zwar als kluger Reisender, aber doch auch mit wahrem sentirten Antheil, sein Vergnügen an Helena. ]

Sodann kamen unzählige Engländer und Engländerinnen, die bey meiner Schwiegertochter gute 108 Aufnahme fanden, und die ich denn auch mehr oder weniger sah und sprach. Weiß man solche Besuche zu nutzen, so geben sie denn doch zuletzt einen Begriff von der Nation, ja so zu sagen von drey Nationen. Jüngere Männer aus den drey Königreichen leben hier in Pensionen, und so kommt man gar nicht aus der Gewohnheit, über sie nachzudenken. Eigentlich finden die Irländer in meinem Hause am meisten Beyfall.

Und so kam mir denn anfangs Juli des Baron Dupin Reise nach England sehr gelegen, ob mir gleich ein solches Werk mit gar zu großer Ableitung droht; auch mußte ich es wirklich bey Seite legen. The Prairies von Cooper führte uns in's westliche Amerika. Die französischen Werke: Les jours des barricades und Les états de Blois erinnerten an die verworrensten Zeiten. Ich aber ward durch eine Sammlung schottischer Balladen aufgeregt, einige zu übersetzen. So darf ich denn auch die schwedische Geschichte [zu erwähnen nicht vergessen], welche ein Hauptmann v. Ekendahl, jetzt bey uns gegenwärtig, höchst lobenswürdig geschrieben hat.

[ Gräf Nr. 1541 (weiter): Was meine Werke betrifft, so arbeitete ich fort an den nächsten Lieferungen, besorgte die Correcturen der ersten zum Besten der Octavausgabe, arbeitete an den Wanderjahren und, was mehr ist, an Faust; da ich denn zur dritten Lieferung den Anfang des zweyten Theils zu geben gedenke. Die gute Wirkung 109 der Helena ermuthigt mich, das Übrige heranzuarbeiten ; Helena bestünde zuletzt als dritter Act, wo sich denn freylich die ersten und letzten würdig anschließen müßten. Das Unternehmen ist nicht gering, das Ganze erfunden und schematisirt; nun kommt es auf's Glück der einzelnen

Fortsetzung nächstens. ]

treulichst

W. d. 12. Oct. 1827.

Goethe.

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43/103. An Carl Friedrich Zelter

Alfred Nicolovius, welcher sich eben hier befindet, hat nicht verfehlt, mir jene häßliche Novelle in ihren Einzelnheiten vorzutragen, die du nach meiner Überzeugung vollkommen einsichtig lakonisch darstellst.

In meiner Biographie muß eine Stelle vorkommen, wo ich ausspreche welche bange Wirkung mir, dem Jüngling, die Entdeckung solcher unterschwornen und übertünchten Familienverhältnisse gemacht; du hast ganz Recht, daß solcher Art manches im Finstern dahinschleicht, bis einmal der Zufall oder wie hier eine Art Wahnsinn das Ungebührliche an's Licht schleppt. Daß unser Bedauern dem Unheil gleich sey 148 bist du überzeugt. Habe Dank, daß du durch anmuthige Relation die Anmuth der zierlichen Sängerin auch mir hast vergegenwärtigen wollen; mein Ohr ist dieser Genüsse längst entwöhnt, der Geist aber bleibt für sie empfänglich. Die neuliche Vorstellung der Zauberflöte ist mir übel bekommen, früher war ich empfänglicher für dergleichen, wenn auch die Vorstellungen vielleicht nicht besser waren. Nun kamen zwey Unvollkommenheiten, eine innere und äußere, zur Sprache, Anregungen wie das Anschlagen einer Glocke die einen Sprung hat. Gar wunderlich; wollte ja auch die Wiederholung deiner geliebten Lieder nicht gelingen! Es ist besser, dergleichen zu ertragen als viel davon zu reden oder gar zu schreiben.

Dagegen fährt die bildende Kunst, besonders die plastische, immer fort, mich glücklich zu machen. Die Abbildungen der Stoschischen Sammlung unterhalten mich auf's beste, auch Herrn Beuths höchst gefällige Sendungen dienen mir und Meyern zu den besten Entwickelungs- und Belehrungsgesprächen. Wir stellen ein Heft Kunst und Alterthum zusammen, wobey ich denn immer auch zunächst für dich zu arbeiten gedenke.

Die nähere Bekanntschaft mit Zahn und seinen Arbeiten wird dir gewiß heilsam und ersprießlich seyn; ich für meine Person bin in dem Falle, daß mich das Anschauen des Alterthums in jedem seiner Reste in den Zustand versetzt, worin ich fühle ein Mensch zu seyn.

149 Bey dem herzlichsten Wunsche, daß deiner Louise Mißgeschick erst durch Linderung möge gebessert und sodann durch Jugendkraft wieder hergestellt werden, erwarte sehnlichst die Relation des Dr. Leo. Einige Recensionen von ihm in der Hegelischen Zeitschrift haben mir von ihm ein gutes Zeugniß gegeben.

Vorstehendes lag einige Zeit. Nun kommt dein Werthes vom 30. October und so mag dieses Papier nicht länger harren.

In meinem Hause leidet die Mutter, wie herkömmlich, an manchen Nachwehen, an verschiedenen, in Übles und Böses umschlagenden Naturnothwendigkeiten. Das schöne Kind gedeiht. [ Gräf Nr. 1550: Ich fahre fort, an Faust zu schreiben , wie es die beste Stunde gibt. ] Sonst ist mir manche literarische Neuigkeit zugekommen, die mich aufregt, in Kunst und Alterthum etwas darüber zu sagen. Wie ich denn überhaupt dem nächsten Stücke einen besondern Ton und eigne Behandlung der Dinge zu geben gedenke.

Auch recht hübsche Zeichnungen, um mäßigen Preis, sind mir zugekommen und ich erwarte eine Sendung Majolika von Nürnberg; dieß ist eine Art Thorheit, in die mein Sohn mit einstimmt. Indessen gibt die Gegenwart dieser Schüsseln, Teller und Gefäße einen Eindruck von tüchtig-frohem Leben, das eine Erbschaft großer mächtiger Kunst verschwendet. Und wie man denn doch gern mit Verschwendern lebt, die sich und uns das Leben leicht machen, ohne viel zu 150 fragen, woher es kam und wohin es geht; so sind diese Dinge, wenn man sie in Masse vor sich sieht, von der allerlustigsten Bedeutung. Wie kümmerlich sind dagegen unsere Porcellanservice, auf denen man Blumen, Gegenden und Heldenthaten zu sehen hat; sie geben keinen Totaleindruck und erinnern immer nur an Botanik, Topographie und Kriegsgeschichte, die ich nur im Garten, auf Reisen und [in] müßigen Stunden lieben mag. Du siehst, wie man seine Thorheiten zu beschönigen weiß, gepriesen aber sey jede Thorheit, die uns dergleichen unschädlichen Genuß verleiht.

Möge denn auch dieses Blatt den Weg antreten den ich so gerne selbst zurücklegte, und dich zu baldigem Erwidern freundlichst aufregen.

So sey und gescheh es

Weimar den 6. November 1827.

Goethe.

162

43/113. An Sulpiz Boisserée

[ Gräf Nr. 1541 (weiter): Ausführung an, wobey man sich denn freylich sehr zusammen nehmen muß. ]

Von Kunstwerken acquirirte ich bedeutende ältere Zeichnungen und verschaffte mir die Abdrücke der Stoschischen Sammlung, welche in Berlin sehr lobenswerth gefertigt und, nach dem alten Winckelmannischen Katalog geordnet, in zierlichen Kästchen ausgegeben werden; sie beschäftigten mich mehrere Tage und müssen noch immer von Zeit zu Zeit beachtet werden als ein ganz unerschöpflicher Schatz, dessen Einzelnheiten uns zu den höchsten, besten Gedanken aufregen.

Im Begriff des Technischen der Mahlerey hat mich Folgendes gar sehr gefördert: die Anwesenheit des Restaurator Palmaroli in Dresden bewog unsern gnädigsten Herrn, den hiesigen Zeichenmeister Lieber, 163 der sich wegen seiner großen Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit besonders dazu empfiehlt, dorthin zu senden, wo denn glücklicherweise der Italiäner seinen Kunstgenossen in Affection nahm und wir glauben können, daß er ihn wirklich in das Technische dieses Geschäfts völlig eingeleitet habe. Mehrere verdorbene, von hier nach Dresden gesendete Bilder sind zu allgemeiner Zufriedenheit von da zurückgekommen. Lieber hat sich nunmehr hier schon eingerichtet und wird seine Künste weiter sehen lassen. Vom Übertragen des Ölbildes von einer Leinwand auf die andere hat er schon hinreichende Probe gegeben. Und so folgt eins aus dem andern. Freylich wird gar manches bey aufgehobener Stockung der Communication schneller sich verbreiten und das Gute fernerhin leichter zu fördern seyn dem der's will und versteht.

Nun aber machte von ästhetischer Seite Alexander Manzoni's Roman: I Promessi Sposi bey mir wirklich Epoche. Lesen Sie gewöhnlich den Globe, welches kein Gebildeter versäumen sollte, der mit dem Treiben und Wirken unsrer westlichen Nachbarn in Verbindung bleiben will, so sind Sie schon mit diesem bedeutenden Werke genugsam bekannt; käme Ihnen aber das Original oder irgend eine Übersetzung zu Handen, so versäumen Sie nicht, sich mit genanntem Werk bekannt zu machen. Zwey deutsche Übersetzungen kommen heraus; die Berliner hält sich mehr an die Darstellungsweise des Originals und liefert uns ziemlich das Wie 164 des Vorgehenden; die Leipziger gibt uns auf alle Fälle auch von dem was geschehen historische Kenntnisse. Wem das Original zugänglich ist und wer eine gewiß bald erfolgende französische Übersetzung zur Hand nimmt, wird sich freylich immer besser befinden.

Auch war mir plastisches Gebilde fortwährend günstig: Von Berlin erhielt ich fernere Gypsabgüsse von denen in England befindlichen antiken Terracottas, auch einzelne Figuren von dem berühmten Basrelief, die Vergötterung Homers vorstellend, zu meiner Zeit noch im Palast Colonna. Dergleichen Gegenstände treiben immer auf's neue in's Alterthum, zur Betrachtung der Gesinnungen, Sitten und Kunstweise jener Zeiten. Da man sich denn immer einrichten muß, in einem unerforschlichen Meere zu schwimmen.

Von da ward ich wieder in den äußersten Norden verschlagen, denn dort muß man wohl die Urfabel des Nibelungen-Liedes aufsuchen. Ein neuer Versuch, uns nah genug an dieses Gedicht, wie es in altdeutscher Form vor uns liegt, heranzuführen, von einem Berliner namens Simrock, verführte mich darauf einzugehen. Hier wird uns nun zu Muthe wie immer, wenn wir auf's neue vor ein schon bekanntes colossales Bild hintreten, es wird immer auf's neue überschwänglich und ungeheuer, und wir fühlen uns gewissermaßen unbehaglich, indem wir uns mit unsern individuellen Kräften weder dasselbe völlig zueignen noch uns demselben völlig gleichstellen können.

165 Das ist dagegen das Eigne der griechischen Dichtkunst, daß sie sich einer löblichen menschlichen Fassungskraft hingibt und gleichstellt; das Erhabene verkörpert sich im Schönen.

Zur Fortsetzung verpflichtet

Weimar den 11. November 1827.

J. W. v. Goethe.

Beykommendes, wegen Verspätung um Vergebung Bittendes, erfolgt hier mit den treusten Wünschen; um es nicht länger aufzuhalten, sage nur kürzlich: daß die letzte lithographische Sendung wohl angekommen, auch die Zahlung Großherzoglicher Rechnung bestens empfohlen ist. Diese Abtheilung Ihres löblichen Werkes hat uns abermals viel zu denken gegeben, hier ist wieder eine eigne Welt, deren Kenntniß wir Ihren großen Bemühungen schuldig sind.

Herr v. Cotta bringt die Schillerische Correspondenz wieder in Anregung, ohne die in solchen Fällen so nöthige Bestimmtheit. Er scheint eine partielle Ablieferung des Manuscriptes zu beabsichtigen, wobey denn freylich auch eine partielle Zahlung des Honorars erfolgen müßte. Ich werde ihm deshalb nächstens ausführlicher schreiben und wünsche ihm auch hierin zu Willen zu seyn, weil er denn doch am besten wissen muß, wie eine Sache anzugreifen ist und wie sie fortschreiten kann. Erhalten Sie mir ein wohlwollendes Andenken; [ Gräf Nr. 1552: ich nutze möglichst meine Tage, um das noch zu leisten was kein anderer thun könnte. 166 Da wird denn doch, unter uns gesagt, noch manches zurück bleiben. ]

Und so fortan empfohlen zu seyn wünscht

der Ihrige

Weimar den 11. November 1827.

G.