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87.

Weimar, den 25. September 1816.

Ich denke mit einer Art Sorge an Ihren Husten, lieber Freund, und wünsche noch recht milde Luft, um die Brust, ehe die rauhen Stürme kommen, noch zu entledigen und zu stärken.

[ Gräf Nr. 1176: Gestern haben wir einen recht freundlichen Abend gehabt bei Goethe, der meine Schwester, Frau von Kalb und mich und meine zwei großen Kinder zu einem Thee eingeladen. Unser Meyer war natürlich auch dabei, und Frau von Stein sollte dabei sein, aber sie wird leider die Abende so müde und fürchtet das Blenden des Lichts, auch 302glaubt sie schwer zu hören; das ist recht traurig. Goethe war heiter und mittheilend und zeigte uns Kupferstiche aus „Faust“ , die ein Maler Cornelius aus Rom gesendet. ] Die Scene, wo Valentin erstochen auf der Straße gefunden wird und Faust mit Mephistopheles entflieht, Gretchen mit einem tiefen Schmerz zurücksinkt in der Frau Marthe Arm, einzelne Gruppen auf der Straße entstehen und neugierig ohne Theilnahme stehen bleiben, dies Alles ist mit der alterthümlichen nationellen Umgebung ausgedrückt. Mir ist der Ausruf dabei im Innern erschallt, wie Valentin sich nicht Bruder nennen will und ausruft: „Deiner Mutter Sohn!“ Schöneres und Angemesseneres dieser Situation, die das ganze Schicksal der unglücklichen Schwester ausdrückt, konnte nichts gesagt werden. Ich bin so mit „Faust“ verwebt, daß ich alle Stellen erkenne und auch auf jede Lebenssituation andre passende Sprüche daraus anwende, daß mir die leiseste Anregung gleich das Ganze nahe bringt. Ich glaube, so lebten die Griechen in der „Ilias“, und so genießt man auch die Poesie, wenn sie sich ins Leben verflicht.

Diese Woche kommt unsre Großfürstin wieder. Wie viele Erinnerungen erweckt diese Ankunft! Ach, und man darf nicht aussprechen, was man erfahren, da der arme Bruder es sich eigens ausgebeten. Es thut mir wohl, daß er so viele Liebe 303fühlt für die theure Schwester, doch ist es meine Art zu empfinden nicht; denn ich spreche gern von den Verschwundnen. Die Hoheit wird, wenn sie hier wieder ihren Lebenskreis beginnt, auch empfinden, was sie hier vermißte schon bei der Abreise, und nun! Für diese beiden Eheleute ist dieser Verlust unersetzlich und ein Unglück im wahren Sinne des Wortes. Wer vermißt aber diesen Engel nicht, dessen Herz ihr nah war und fähig, ihre schöne Seele zu empfinden. –

Graf Edling ist angekommen mit seiner Frau, die mir sehr lieb ist, die ich liebe, als hätte ich sie längst geliebt. Sie hat einen Verstand, eine erhöhtere Art zu empfinden und zu erkennen, der sie einem gleich nahe bringt, dabei eine Güte, einen Ausdruck des Wohlwollens, der sie sehr anziehend macht. Er wird gewiß immer mehr auch die guten Seiten seines Gemüths zeigen lernen in solcher Umgebung. Sie will gern allein sein und nur kleine Gesellschaft um sich haben; dies freut mich; ich werde Alles thun, was ich kann, ihr etwas Angenehmes und Liebevolles zu erzeigen. Sie fühlt sich anfangs freilich allein, da sie immer entweder am Hof oder in ihrer Familie lebt, der Mann muß seinen Geschäften leben; also hat sie, ehe sie den Lebensgang recht zu finden weiß, wol Momente der Sehnsucht, da zumal der Familienkreis, der sie umgab, vorzüglich ist. Sie liebt 304keinen geselligen Zwang, und kommt aus der großen Hauptstadt und vom Hof des Kaisers viel freier zu uns, als wir in den engen Verhältnissen es gewohnt sind. Sie sagte mir neulich, daß sie alle diese Rücksichten auf Gesellschaft, das lange Leben in ihr, das Stehen u. s. w. nicht kannte, da, wenn sie nicht an den großen Hoffesten sich hätte zeigen müssen, sie in dem Cirkel der Kaiserfamilie am allerfreisten gelebt habe und ohne Zwang. Das fühle ich wohl. Sie sagte, erst seit Wien habe sie die Höfe kennen lernen, nämlich den Zwang der Höfe. Ich muß wol Recht geben, daß man sich unnöthige Lasten auflegt im Leben, aber es ist ein Misverstand, der wol aus einem höhern Begriff entsprungen.

Oken’s Geschichte ist mir sehr traurig, weil er auf lange Zeit der guten Sache schaden kann, da er die Preßfreiheit so entwürdiget zu Schimpfworten; das Blatt mit den Eselsköpfen hat mich in meiner Illusion von Freiheit garstig gestört 1). 305Anfangs hat mich (unter uns gesprochen) die Geschichte sehr betrübt, solange ich nur Eichstädt’s Cabalen sah und seinen Schutz nicht ertragen konnte, den man ihm immer angedeihen läßt unverdienterweise 1). Da aber Oken sich selbst solche Blößen gibt, so kann man leider auch der Freiheit nicht weiter genießen, und dies tödtet auf viele Zeiten den Keim des Bessern. Dabei thut mir Oken in seinen Familienverhältnissen leid; denn wenn Mecklenburg Genugthuung verlangt, so könnte er alle Insultationen erfahren, und er könnte mit Ehren nicht bleiben, wo er ist. Wenn er einmal einer Nothwendigkeit weichen muß, so könnte er es noch mit Anstand, wenn er schwiege, ehe die Strenge andre Maßregeln fodern möchte. Er ist immer das Opfer und mit ihm Die, die an den Ideen des Besserwerdens in der Welt sich halten möchten. Es ist der Gang der großen wie der kleinen Weltbegebenheiten, die Individuen sind für die Ideen noch nicht gebildet, und das Ungeschickte behält die Oberhand. Ich könnte wieder eine Stelle aus dem „Faust“ citiren.

Sie wären sehr artig, wenn Sie mir Riemer’s 306Vorrede 1) zu lesen schickten; denn hier gibt man mir Alles zu spät. – Ich habe mich neulich recht über Niethammer’s gefreut; sie sind Beide so gut und verständig, und der Gang der Ideen, die er noch mit Schiller wechselte, ist sich treu geblieben. Er hatte immer den guten Willen und eine Klarheit der Ansichten für seine Studien.

Denken Sie, daß Frau von Kalb drei Monate hier bleiben will! Es bekümmert mich, da ich die äußern Bedingungen ihres Lebens nicht einsehe. Ohne Geld, unbehülflich durch ihren Zustand, ist sie ganz abhängig von fremder Theilnahme und Hülfe. Sie ist weniger lebhaft, aber immer die alte sonst und einer Selbsttäuschung fähig, die unbegreiflich ist.