Auf dem Brenner, den 8. September Abends.
Hierher gekommen, gleichsam gezwungen, endlich an einen Ruhepunct, an einen stillen Ort, wie ich ihn mir nur hätte wünschen können. Es war ein Tag, den man Jahre lang in der Erinnerung genießen kann. Um sechs Uhr verließ ich Mittenwald, den klaren Himmel reinigte ein scharfer Wind vollkommen. Es war eine Kälte, wie sie nur im Februar erlaubt ist. Nun aber, bei dem Glanze der aufgehenden Sonne, die dunkeln, mit Fichten bewachsenen Vordergründe, die grauen Kalkfelsen dazwischen und dahinter die 16 beschneiten höchsten Gipfel auf einem tieferen Himmelsblau, das waren köstliche, ewig abwechselnde Bilder.
Bei Scharnitz kommt man in's Tyrol. Die Gränze ist mit einem Walle geschlossen, der das Thal verriegelt und sich an die Berge anschließt. Es sieht gut aus: an der einen Seite ist der Felsen befestigt, an der andern steigt er senkrecht in die Höhe. Von Seefeld wird der Weg immer interessanter, und wenn er bisher, seit Benedictbeuern herauf, von Höhe zu Höhe stieg, und alle Wasser die Region der Isar suchten, so blickt man nun über einen Rücken in das Innthal, und Intzingen liegt vor uns. Die Sonne war hoch und heiß, ich mußte meine Kleidung erleichtern, die ich bei der veränderlichen Atmosphäre des Tages oft wechsele.
Bei Zierl fährt man in's Innthal herab. Die Lage ist unbeschreiblich schön, und der hohe Sonnenduft machte sie ganz herrlich. Der Postillon eilte mehr als ich wünschte: er hatte noch keine Messe gehört und wollte sie in Innsbruck, es war eben Marientag, um desto andächtiger zu sich nehmen. Nun rasselte es immer an dem Inn hinab, an der Martinswand vorbei, einer steil abgehenden ungeheuern Kalkwand. Zu dem Platze, wohin Kaiser Maximilian sich verstiegen haben soll, getraute ich mir wohl ohne Engel hin und her zu kommen, ob es gleich immer ein frevelhaftes Unternehmen wäre.
Innsbruck liegt herrlich in einem breiten reichen Thale, zwischen hohen Felsen und Gebirgen. Erst 17 wollte ich dableiben, aber es ließ mir keine Ruhe. Kurze Zeit ergötzte ich mich an dem Sohne des Wirths, einem leibhaftigen Söller. So begegnen mir nach und nach meine Menschen. Das Fest Mariä Geburt zu feiern, ist alles geputzt. Gesund und wohlhäbig zu Schaaren, wallfahrten sie nach Wilten, einem Andachtsorte, eine Viertelstunde von der Stadt gegen das Gebirge zu. Um zwei Uhr, als mein rollender Wagen das muntere bunte Gedränge theilte, war alles in frohem Zug und Gang.
Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben. Auf den gebahntesten Wegen steigt man eine Schlucht herauf, die das Wasser nach dem Inn zu sendet, eine Schlucht, die den Augen unzählige Abwechselungen bietet. Wenn der Weg nah am schroffsten Felsen hergeht, ja in ihn hineingehauen ist, so erblickt man die Seite gegenüber sanft abhängig, so daß noch kann der schönste Feldbau darauf geübt werden. Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhängenden hohen und breiten Fläche. Bald verändert sich das Ganze: das Benutzbare wird zur Wiese, bis sich auch das in einen steilen Abhang verliert.
Zu meiner Welterschaffung habe ich manches erobert, doch nichts ganz Neues und Unerwartetes. Auch habe ich viel geträumt von dem Modell, wovon ich so lange rede, woran ich so gern anschaulich machen 18 möchte, was in meinem Innern herumzieht, und was ich nicht jedem in der Natur vor Augen stellen kann.
Nun wurde es dunkler und dunkler, das Einzelne verlor sich, die Massen wurden immer größer und herrlicher, endlich da sich alles nur wie ein tiefes geheimes Bild vor mir bewegte, sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte ich, daß der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der Gränzscheide des Südens und Nordens eingeklemmt bin.
Ich füge noch einige Bemerkungen hinzu, über die Witterung, die mir vielleicht eben deßwegen so günstig ist, weil ich ihr so viele Betrachtungen widme. Auf dem flachen Lande empfängt man gutes und böses Wetter, wenn es schon fertig geworden, im Gebirge ist man gegenwärtig, wenn es entsteht. Dieses ist mir nun so oft begegnet, wenn ich auf Reisen, Spaziergängen, auf der Jagd Tag' und Nächte lang in den Bergwäldern, zwischen Klippen verweilte, und da ist mir eine Grille aufgestiegen, die ich auch für nichts anders geben will, die ich aber nicht los werden kann, wie man denn eben die Grillen am wenigsten los wird. Ich sehe sie überall, als wenn es eine Wahrheit wäre, und so will ich sie denn auch aussprechen, da ich ohnehin die Nachsicht meiner Freunde so oft zu prüfen im Falle bin.
Betrachten wir die Gebirge näher oder ferner, und sehen ihre Gipfel bald im Sonnenscheine glänzen, bald vom Nebel umzogen, von stürmenden Wolken umsaus't, von Regenstrichen gepeitscht, mit Schnee bedeckt, so schreiben wir das alles der Atmosphäre zu, da wir mit Augen ihre Bewegungen und Veränderungen gar wohl sehen und fassen. Die Gebirge hingegen liegen vor unserm äußeren Sinn in ihrer herkömmlichen Gestalt unbeweglich da. Wir halten sie für todt, weil sie erstarrt sind, wir glauben sie unthätig, weil sie ruhen. Ich aber kann mich schon seit längerer Zeit nicht entbrechen, einer innern, stillen, geheimen Wirkung derselben die Veränderungen, die sich in der Atmosphäre zeigen, zum großen Theile zuzuschreiben. Ich glaube nämlich, daß die Masse der Erde überhaupt, und folglich auch besonders ihre hervorragenden Grundfesten, nicht eine beständige, immer gleiche Anziehungskraft ausüben, sondern daß diese Anziehungskraft sich in einem gewissen Pulsiren äußert, so daß sie sich durch innere nothwendige, vielleicht auch äußere zufällige Ursachen bald vermehrt, bald vermindert. Mögen alle anderen Versuche diese Oscillation darzustellen zu beschränkt und roh sein, die Atmosphäre ist zart und weit genug, um uns von jenen stillen Wirkungen zu unterrichten. Vermindert sich jene Anziehungskraft im geringsten, alsobald deutet uns die verringerte Schwere, die verminderte Elasticität der Luft diese Wirkung an. Die Atmosphäre kann die Feuchtigkeit, die in ihr chemisch und mechanisch vertheilt war, nicht mehr tragen, Wolken 20 senken sich, Regen stürzen nieder, und Regenströme ziehen nach dem Lande zu. Vermehrt aber das Gebirg seine Schwerkraft, so wird alsobald die Elasticität der Luft wieder hergestellt, und es entspringen zwei wichtige Phänomene. Einmal versammeln die Berge ungeheuere Wolkenmassen um sich her, halten sie fest und starr, wie zweite Gipfel über sich, bis sie, durch innern Kampf elektrischer Kräfte bestimmt, als Gewitter, Nebel und Regen niedergehen, sodann wirkt auf den Überrest die elastische Luft, welche nun wieder mehr Wasser zu fassen, aufzulösen und zu verarbeiten fähig ist. Ich sah das Aufzehren einer solchen Wolke ganz deutlich: sie hing um den steilsten Gipfel, das Abendroth beschien sie. Langsam, langsam sonderten ihre Enden sich ab, einige Flocken wurden weggezogen und in die Höhe gehoben; diese verschwanden, und so verschwand die ganze Masse nach und nach und ward vor meinen Augen, wie ein Rocken, von einer unsichtbaren Hand ganz eigentlich abgesponnen.
Wenn die Freunde über den ambulanten Wetterbeobachter und dessen seltsame Theorien gelächelt haben, so gebe ich ihnen vielleicht durch einige andere Betrachtungen Gelegenheit zum Lachen, denn ich muß gestehen, da meine Reise eigentlich eine Flucht war, vor allen den Unbilden, die ich unter dem ein und funfzigsten Grade erlitten, daß ich Hoffnung hatte, unter dem acht und vierzigsten ein wahres Gosen zu betreten. Allein ich fand mich getäuscht, wie ich 21 früher hätte wissen sollen; denn nicht die Polhöhe allein macht Klima und Witterung, sondern die Bergreihen, besonders jene, die von Morgen nach Abend die Länder durchschneiden. In diesen ereignen sich immer große Veränderungen, und nordwärts liegende Länder haben am meisten darunter zu leiden. So scheint auch die Witterung für den ganzen Norden diesen Sommer über durch die große Alpenkette, auf der ich dieses schreibe, bestimmt worden zu sein. Hier hat es die letzten Monate her immer geregnet, und Süd-West und Süd-Ost haben den Regen durchaus nordwärts geführt. In Italien sollen sie schön Wetter, ja zu trocken, gehabt haben.
Nun von dem abhängigen, durch Klima, Berghöhe, Feuchtigkeit auf das mannichfaltigste bedingten Pflanzenreich einige Worte. Auch hierin habe ich keine sonderliche Veränderung, doch Gewinn gefunden. Äpfel und Birnen hängen schon häufig vor Innsbruck in dem Thale, Pfirschen und Trauben hingegen bringen sie aus Wälschland, oder vielmehr aus dem mittägigen Tyrol. Um Innsbruck bauen sie viel Türkisch- und Haidekorn, das sie Blende nennen. Den Brenner herauf sah ich die ersten Lärchenbäume, bei Schönberg den ersten Zirbel. Ob wohl das Harfnermädchen hier auch nachgefragt hätte?
Die Pflanzen betreffend fühl' ich noch sehr meine Schülerschaft. Bis München glaubt' ich wirklich nur die gewöhnlichen zu sehen. Freilich war meine eilige 22 Tag- und Nachtfahrt solchen feinern Beobachtungen nicht günstig. Nun habe ich zwar meinen Linné bei mir und seine Terminologie wohl eingeprägt, wo soll aber Zeit und Ruhe zum Analysiren herkommen, das ohnehin, wenn ich mich recht kenne, meine Stärke niemals werden kann? Daher schärf' ich mein Auge auf's Allgemeine, und als ich am Walchensee die erste Gentiana sah, fiel mir auf, daß ich auch bisher zuerst am Wasser die neuen Pflanzen fand.
Was mich noch aufmerksamer machte, war der Einfluß, den die Gebirgshöhe auf die Pflanzen zu haben schien. Nicht nur neue Pflanzen fand ich da, sondern Wachsthum der alten verändert; wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und mastiger waren, die Augen näher an einander standen und die Blätter breit waren, so wurden höher in's Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter, die Augen rückten aus einander, so daß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum statt fand, und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich bemerkte dieß bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere Binsen als im Unterlande.
Die Kalkalpen, welche ich bisher durchschnitten, haben eine graue Farbe und schöne, sonderbare, unregelmäßige Formen, ob sich gleich der Fels in Lager und Bänke theilt. Aber weil auch geschwungene Lager 23 vorkommen, und der Fels überhaupt ungleich verwittert, so sehen die Wände und Gipfel seltsam aus. Diese Gebirgsart steigt den Brenner weit herauf. In der Gegend des oberen Sees fand ich eine Veränderung desselben. An dunkelgrünen und dunkelgrauen Glimmerschiefer, stark mit Quarz durchzogen, lehnte sich ein weißer dichter Kalkstein, der an der Ablösung glimmerig war und in großen, obgleich unendlich zerklüfteten Massen anstand. Über demselben fand ich wieder Glimmerschiefer, der mir aber zärter als der vorige zu sein schien. Weiter hinauf zeigt sich eine besondere Art Gneis, oder vielmehr eine Granitart, die sich dem Gneis zubildet, wie in der Gegend von Elbogen. Hier oben, gegen dem Hause über, ist der Fels Glimmerschiefer. Die Wasser, die aus dem Berge kommen, bringen nur diesen Stein und grauen Kalk mit.
Nicht fern muß der Granitstock sein, an den sich alles anlehnt. Die Karte zeigt, daß man sich an der Seite des eigentlichen großen Brenners befindet, von dem aus die Wasser sich ringsum ergießen.
Vom Äußern des Menschengeschlechts habe ich so viel aufgefaßt. Die Nation ist wacker und gerade vor sich hin. Die Gestalten bleiben sich ziemlich gleich, braune wohlgeöffnete Augen und sehr gut gezeichnete schwarze Augenbraunen bei den Weibern; dagegen blonde und breite Augenbraunen bei den Männern. Diesen geben die grünen Hüte zwischen den grauen 24 Felsen ein fröhliches Ansehn. Sie tragen sie geziert mit Bändern oder breiten Schärpen von Tafft mit Franzen, die mit Nadeln gar zierlich aufgeheftet werden. Auch hat jeder eine Blume oder eine Feder auf dem Hut. Dagegen verbilden sich die Weiber durch weiße, baumwollene, zottige, sehr weite Mützen, als wären es unförmliche Mannesnachtmützen. Das gibt ihnen ein ganz fremdes Ansehn, da sie im Auslande die grünen Mannshüte tragen, die sehr schön kleiden.
Ich habe Gelegenheit gehabt zu sehen, welchen Werth die gemeinen Leute auf Pfauenfedern legen, und wie überhaupt jede bunte Feder geehrt wird. Wer diese Gebirge bereisen wollte, müßte dergleichen mit sich führen. Eine solche am rechten Orte angebrachte Feder würde statt des willkommensten Trinkgeldes dienen.
Indem ich nun diese Blätter sondere, sammele, hefte und dergestalt einrichte, daß sie meinen Freunden bald einen leichten Überblick meiner bisherigen Schicksale gewähren können, und daß ich mir zugleich was ich bisher erfahren und gedacht, von der Seele wälze, betrachte ich dagegen mit einem Schauer manche Packete, von denen ich ein kurz und gutes Bekenntniß ablegen muß: sind es doch meine Begleiter, werden sie nicht viel Einfluß auf meine nächsten Tage haben!
[ Gräf Nr. 1152a: Ich hatte nach Karlsbad meine sämmtlichen Schriften mitgenommen, um die von Göschen zu besorgende 25 Ausgabe schließlich zusammen zu stellen. Die ungedruckten besaß ich schon längst in schönen Abschriften, von der geschickten Hand des Secretär Vogel. Dieser wackere Mann begleitete mich auch dießmal, um mir durch seine Fertigkeit beizustehen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, die vier ersten Bände, unter der treusten Mitwirkung Herders, an den Verleger abzusenden, und war im Begriff, mit den vier letzten das Gleiche zu thun. Diese bestanden theils aus nur entworfenen Arbeiten, ja aus Fragmenten, wie denn meine Unart, vieles anzufangen und bei vermindertem Interesse liegen zu lassen, mit den Jahren, Beschäftigungen und Zerstreuungen allgemach zugenommen hatte.
Da ich nun diese Dinge sämmtlich mit mir führte, so gehorchte ich gern den Anforderungen der Karlsbader geistreichen Gesellschaft und las ihr alles vor, was bisher unbekannt geblieben, da man sich denn jedesmal über das Nichtvollbringen derjenigen Dinge, an denen man sich gern länger unterhalten hätte, bitterlich beschwerte.
Die Feier meines Geburtstages bestand hauptsächlich darin, daß ich mehrere Gedichte erhielt, im Namen meiner unternommenen aber vernachlässigten Arbeiten, worin sich jedes nach seiner Art über mein Verfahren beklagte. Darunter zeichnete sich ein Gedicht im Namen der Vögel aus, wo eine an Treufreund gesendete Deputation dieser muntern Geschöpfe inständig bat, er möchte doch das ihnen zugesagte Reich nunmehr auch gründen und einrichten. Nicht weniger einsichtig und anmuthig waren die Äußerungen über meine andern Stückwerke, so daß sie mir auf einmal wieder lebendig wurden und ich den Freunden meine gehabten Vorsätze und vollständigen Plane mit Vergnügen erzählte. Dieß veranlaßte dringende Forderungen und Wünsche und gab Herdern gewonnen Spiel, als er mich zu überreden suchte, ich möchte diese Papiere nochmals mit mir nehmen, vor allen aber Iphigenien noch einige Aufmerksamkeit schenken, welche sie wohl verdiene. Das Stück, wie es gegenwärtig liegt, ist mehr Entwurf als Ausführung, es ist in poetischer Prosa geschrieben, die sich manchmal in einen jambischen Rhythmus verliert, auch wohl andern Sylbenmaßen ähnelt. Dieses thut freilich der Wirkung großen Eintrag, wenn man es nicht sehr gut lies't und durch gewisse Kunstgriffe die Mängel zu verbergen weiß. Er legte mir dieses so dringend an's Herz, und da ich meinen größeren Reiseplan ihm wie allen verborgen hatte, so glaubte er, es sei nur wieder von einer Bergwanderung die Rede, und weil er sich gegen Mineralogie und Geologie immer spöttisch erwies, meinte er, ich sollte, anstatt taubes Gestein zu klopfen, meine Werkzeuge an diese Arbeit wenden. Ich gehorchte so vielen wohlgemeinten Andrängen: bis hierher aber war es nicht möglich, meine Aufmerksamkeit dahin zu lenken. 27 Jetzt sondere ich Iphigenien aus dem Packet und nehme sie mit in das schöne warme Land als Begleiterin. Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestört, und die herrlichen Bilder der Umwelt verdrängen keineswegs den poetischen Sinn, sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor. ]
29