Nachdem ich daher so freundlichen Anträgen aus guten Gründen nachgegeben hatte, so ward Folgendes verabredet. Ein in Karlsruhe zurückgebliebener Cavalier, welcher einen in Straßburg verfertigten Landauer Wagen erwarte, werde an einem bestimmten Tage in Frankfurt eintreffen, ich solle mich bereit halten, mit ihm nach Weimar sogleich abzureisen. Der heitere und gnädige Abschied, den ich von den jungen Herrschaften erfuhr, das freundliche Betragen der Hofleute, machten mir diese Reise höchst wünschenswerth, wozu sich der Weg so angenehm zu ebnen schien.
Aber auch hier sollte durch Zufälligkeiten eine so einfache Angelegenheit verwickelt, durch Leidenschaftlichkeit 182 verwirrt und nahezu völlig vernichtet werden: [ Gräf Nr. 1151a: denn nachdem ich überall Abschied genommen und den Tag meiner Abreise verkündet, sodann aber eilig eingepackt und dabei meiner ungedruckten Schriften nicht vergessen, erwartete ich die Stunde, die den gedachten Freund im neuen Wagen herbeiführen und mich in eine neue Gegend, in neue Verhältnisse bringen sollte. Die Stunde verging, der Tag auch und da ich, um nicht zweimal Abschied zu nehmen und überhaupt um nicht durch Zulauf und Besuch überhäuft zu sein, mich seit dem besagten Morgen als abwesend angegeben hatte, so mußte ich mich im Hause, ja in meinem Zimmer still halten und befand mich daher in einer sonderbaren Lage.
Weil aber die Einsamkeit und Enge jederzeit für mich etwas sehr Günstiges hatte, indem ich solche Stunden zu nutzen gedrängt war, so schrieb ich an meinem Egmont fort und brachte ihn beinahe zu Stande. Ich las ihn meinem Vater vor, der eine ganz eigne Neigung zu diesem Stück gewann, und nichts mehr wünschte, als es fertig und gedruckt zu sehen, weil er hoffte, daß der gute Ruf seines Sohnes dadurch sollte vermehrt werden. Eine solche Beruhigung und neue Zufriedenheit war ihm aber auch nöthig: denn er machte über das Außenbleiben des Wagens die bedenklichsten Glossen. Er hielt das Ganze abermals nur für eine Erfindung, glaubte an keinen neuen Landauer, hielt den zurückgebliebenen Cavalier 183 für ein Luftgespenst; welches er mir zwar nur indirect zu verstehen gab, dagegen aber sich und meine Mutter desto ausführlicher quälte, indem er das Ganze als einen lustigen Hofstreich ansah, den man in Gefolg meiner Unarten habe ausgehen lassen, um mich zu kränken und zu beschämen, wenn ich nunmehr statt jener gehofften Ehre schimpflich sitzen geblieben.
Ich selbst hielt zwar anfangs am Glauben fest, freute mich über die eingezogenen Stunden, die mir weder von Freunden noch Fremden, noch sonst einer geselligen Zerstreuung verkümmert wurden, und schrieb, wenn auch nicht ohne innere Agitation, am Egmont rüstig fort. Und diese Gemüthsstimmung mochte wohl dem Stück selbst zu Gute kommen, das, von so viel Leidenschaften bewegt, nicht wohl von einem ganz Leidenschaftslosen hätte geschrieben werden können.
So vergingen acht Tage und ich weiß nicht, wie viel drüber, und diese völlige Einkerkerung fing an mir beschwerlich zu werden. Seit mehreren Jahren gewohnt unter freiem Himmel zu leben, gesellt zu Freunden, mit denen ich in dem aufrichtigsten geschäftigsten Wechselverhältnisse stand, in der Nähe einer Geliebten, von der ich zwar mich zu trennen den Vorsatz gefaßt, die mich aber doch, so lange noch die Möglichkeit war mich ihr zu nähern, gewaltsam zu sich forderte, --- alles dieses fing an mich dergestalt zu beunruhigen, daß die Anziehungskraft meiner Tragödie sich zu vermindern und die poetische Productionskraft 184 durch Ungeduld aufgehoben zu werden drohte. ] Schon einige Abende war es mir nicht möglich gewesen zu Haus zu bleiben. In einen großen Mantel gehüllt schlich ich in der Stadt umher, an den Häusern meiner Freunde und Bekannten vorbei, und versäumte nicht auch an Lili's Fenster zu treten. Sie wohnte im Erdgeschoß eines Eckhauses, die grünen Rouleaux waren niedergelassen; ich konnte aber recht gut bemerken, daß die Lichter am gewönlichen Platze standen. Bald hörte ich sie zum Claviere singen; es war das Lied: Warum ziehst du mich unwiderstehlich! das nicht ganz vor einem Jahr an sie gedichtet ward. Es mußte mir scheinen, daß sie es ausdrucksvoller sänge als jemals, ich konnte es deutlich Wort vor Wort verstehn; ich hatte das Ohr so nahe angedrückt wie nur das auswärts gebogene Gitter erlaubte. Nachdem sie es zu Ende gesungen, sah ich an dem Schatten, der auf die Rouleaux fiel, daß sie aufgestanden war; sie ging hin und wieder, aber vergebens suchte ich den Umriß ihres lieblichen Wesens durch das dichte Gewebe zu erhaschen. Nur der feste Vorsatz mich wegzubegeben, ihr nicht durch meine Gegenwart beschwerlich zu sein, ihr wirklich zu entsagen und die Vorstellung, was für ein seltsames Aufsehen mein Wiedererscheinen machen müßte, konnte mich entscheiden, die so liebe Nähe zu verlassen.
[ Gräf Nr. 1151a (weiter): Noch einige Tage verstrichen und die Hypothese meines Vaters gewann immer mehr Wahrscheinlichkeit, 185 da auch nicht einmal ein Brief von Karlsruhe kam, welcher die Ursachen der Verzögerung des Wagens angegeben hätte. Meine Dichtung gerieth in's Stocken und nun hatte mein Vater gutes Spiel bei der Unruhe von der ich innerlich zerarbeitet war. Er stellte mir vor: die Sache sei nun einmal nicht zu ändern, mein Koffer sei gepackt, er wolle mir Geld und Credit geben nach Italien zu gehn, ich müsse mich aber gleich entschließen aufzubrechen. In einer so wichtigen Sache zweifelnd und zaudernd, ging ich endlich darauf ein: daß wenn zu einer bestimmten Stunde weder Wagen noch Nachricht eingelaufen sei, ich abreisen, und zwar zuerst nach Heidelberg, von dannen aber nicht wieder durch die Schweiz, sondern nunmehr durch Graubündten oder Tirol über die Alpen gehen wolle. ]