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250. Mit Carl Ludwig von Knebel 1806, 18. August.

[Heinrich Luden hatte nach seiner Berufung als Professor nach Jena einen vorläufigen Besuch dort gemacht und dabei sogleich durch Vermittelung des zufällig auch anwesenden Hufeland Einladung zu einer Abendgesellschaft zu Knebels erhalten, um Goethe da kennen zu lernen. Vorher machte er einen Spaziergang und erzählt dann weiter:]

Hufeland war schon zum Herrn v. Knebel gegangen und hatte dem Kellner aufgetragen, mir zu sagen, daß ich mich beeilen möchte. Ich wechselte schnell mein Kleid, ging nicht ohne einige Beklommenheit rasch fort und mochte etwa um halb 9 Uhr im Knebel'schen Hause eintreffen. An der Treppe kam mir die Frau v. Knebel entgegen, eine sehr hübsche und äußerst lebendige Dame. »Aber Herr Professor!« sagte sie nach der ersten Begrüßung, »Sie haben lange auf sich warten lassen. Drinnen ist eine große Verstimmung: der Geheime Rath ist sehr eigen; er will auf niemand warten, sondern verlangt, daß alle Welt auf ihn warten soll. Es hat nicht viel gefehlt, so wäre er wieder fortgegangen.« – »Sie erschrecken mich, gnädige Frau!« antwortete ich. »Es thut mir um so mehr leid, da Se. Excellenz recht hat. Indeß hoffe ich, Verzeihung zu erhalten. Sollte aber meine Entschuldigung nicht ausreichen, so hoffe ich, Sie werden mir beistehen, und einer schönen Frau wird es ja leicht gelingen, auch die Verdrießlichkeit einer Excellenz in Heiterkeit umzuwandeln.« Frau v. Knebel führte mich in das Zimmer; »Hier ist der Zauderer!« sagte sie. In dem Zimmer befanden sich außer den Herren v. Knebel und Hufeland nur Goethe und Riemer, der Goethe zu begleiten pflegte. Alle standen schweigsam da; kein Gesicht zeigte sich freundlich: Hufeland sah gutmüthig vor sich hin, Riemer gleichgültig, Knebel verlegen, Goethe verdrießlich. Knebel, gegen Goethe gewendet, wies mit der Hand nach mir her: »Herr Professor Luden.« Goethe machte eine kleine verstümmelte Bewegung, in welcher kaum der Anfang zu einer Verbeugung zu erkennen war, ohne nur ein Wort zu sagen. Das war die ganze Vorstellung, und vielleicht war sie die beste; denn nun brauchte ich auch nichts zu sagen und hatte doch Zeit gehabt, mir den Heros anzusehen. Ich wandte mich daher sogleich an den Herrn v. Knebel: »Frau v. Knebel hat mir soeben gesagt, daß auf mich gewartet worden ist; das thut mir unendlich leid, aber 35 ich glaube, Absolution von meiner Sünde zu verdienen, auch ohne Buße. Eine Stunde war mir nicht bestimmt, und als Neuling bin ich natürlich unbekannt mit der Weise der Götter in diesem Lande. Was ich diesen Morgen aus diesen Fenstern gesehen hatte, das übte auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft: ich mußte die Herrlichkeiten, den Fluß, die Berge, alles soweit als möglich in der Nähe sehen. Also bin ich hinausgelaufen, habe die Fluren durchstreift und mehre Berge bestiegen, und in meiner Begeisterung habe ich nicht an die Zeit gedacht und vergessen, daß der Rückweg so lang zu sein pflegt, als der Anmarsch. So habe ich mich in aller Unschuld verspätet.« Während ich diese Worte sprach, ließ Goethe einpaar Male ein beifälliges »Hm! hm!« vernehmen und Knebel warf sein gewöhnliches »Jo, jo!« hinein. Endlich sagte Goethe: »Die Entschuldigung des Herrn Professors ist ausreichend; wir wollen ihm vollkommene Absolution ertheilen unter der Bedingung, daß er künftig, da er nunmehr mit der Weise der Götter in diesem Lande bekannt geworden ist, pünktlicher sei.« Ich sprach sogleich das Gelübde aus. »So ist,« rief Frau v. Knebel, »mein Beistand, den ich dem Herrn Professor zugesagt, wohl gar nicht nöthig?« – »Gar nicht, schöne Frau!« antwortete Goethe; »aber wir müssen die Zeit wieder einbringen, darum geben Sie uns nur bald zu essen und zu trinken!«

Fünf Minuten nachher saßen wir um einen runden Tisch ..... Anfangs wurde hin und her geplaudert in gewöhnlicher Weise, kaum aber mochte eine Viertelstunde verlaufen sein, so hatte Goethe es übernommen, die Gesellschaft zu unterhalten. Und er unterhielt sie auf eine bewunderungswürdige Weise; er erzählte Anekdoten und Abenteuer von seinen Reisen, im besondern von seinem letzten Aufenthalte im Karlsbade, charakterisirte die Menschen auf das Lebendigste, warf mit Scherzen und Witzworten um sich und schien aus seinem unermeßlichen Vorrathe um so freigebiger und lieber mitzutheilen, je aufmerksamer wir sämmtlich auf seine Worte waren und je dankbarer für seine Mittheilungen. Die Gesellschaft wurde ungemein lebendig und brach zuweilen in ein schallendes Gelächter aus, nur dem Lachen der unsterblichen Götter vergleichbar. An diesem Lachen nahm Goethe selbst nur mäßigen Antheil, schien aber mit großer Lust in dasselbe hineinzuschauen und nur den Wunsch zu haben, es nicht ausgehen zu lassen. Im allgemeinen hatte er das Wort ganz allein, nur Herr v. Knebel ließ sich sein Hausrecht nicht nehmen, brach hier und dort ein und gab damit Veranlassung zu neuen Witzen und Anekdoten. Wir übrigen machten alles mit Lachen gut; zuweilen jedoch richtete Goethe auch wohl eine Frage an diesen oder jenen und im besondern wiederholt an mich, sei es, daß er seine erste Unfreundlichkeit noch mehr gutmachen, sei es, daß er mir, dem Ankömmling, wie man zu sagen pflegt, auf den Zahn fühlen wollte. Und in 37 der Stimmung, in welcher ich war, blieb ich eben keine Antwort schuldig. Einpaar Male sang auch Frau v. Knebel ein Goethe'sches Lied nach Zelter's Composition sehr schön; sie wurde zuerst durch Hufeland ersucht, der, wie er versicherte, eine wahre Sehnsucht hatte, die herrliche Stimme dieser Frau einmal wieder zu hören; alsdann wünschte Goethe selbst, daß sie noch einmal singen möchte. Er fühlte wohl, wie Hufeland, daß der ganzen Gesellschaft eine Erholung Bedürfniß sei, und Frau v. Knebel erfüllte bereitwillig die ausgesprochenen Wünsche .... Nach den Gesängen aber ging es von neuem weiter in der alten Weise.

Mehr als eine Anekdote, die von Goethe erzählt ward, ist mir noch im Gedächtniß. Aber sie zu erzählen, wage ich nicht; jedesfalles würde das Anmuthigste und Pikanteste fehlen: Goethes Augen, Stimme und Geberdenspiel; denn er erzählte nicht bloß, sondern er stellte alles mimisch dar. Besonders kam er wiederholt auf zwei alte Gräfinnen, mit welchen er in Verkehr gebracht worden war. Sie hätten einen unermeßlichen Umfang gehabt und deswegen eine bewunderungswürdige Unbeweglichkeit gezeigt, sobald sie einmal Platz genommen. Dabei hätten sie eine große Geläufigkeit der Zunge behalten und ein endloses Geschwätz geführt. Ihre Stimme sei jungfräulich gewesen, sei aber oft, wenn sie lebhaft geworden, oder das Gefühl ihrer Würde an den Tag zu legen für nöthig gehalten, bald in ein artiges Krähen, bald in ein girrendes Zwitschern 38 übergegangen. »Mir selbst,« sagte Goethe, »waren die wunderlichen Kugelgestalten dieser Damen am merkwürdigsten. Ich konnte nicht begreifen, wie es einem Menschen, Mann oder Weib, gelingen könne, es zu einer solchen Masse zu bringen; auch hätte ich die Dehnbarkeit der menschlichen Haut nicht für so grenzenlos gehalten. Sobald ich aber die Ehre erhielt, einmal mit den edlen Damen zu speisen, wurde mir alles klar. Wir andern wissen doch wahrlich auch, was essen und trinken heißt, und ich denke, wir geben unserer vortrefflichen Wirthin einen schlagenden Beweis, aber ein solches Essen – vom Trinken sage ich nichts – überstieg doch meine Vorstellungen. Jede der beiden Damen nahm z.B. sechs harte Eier zum Spinat, schnitt jedes Ei in der Mitte durch und warf nun das halbe Ei mit so großer Leichtigkeit hinunter, wie der Strauß ein halbes Hufeisen.« Übrigens theilte Goethe noch einzelne Bemerkungen der edlen Damen mit über die Wirkungen des Karlsbader Sprudels auf ihren Körper, über die Zeitläufe und über die Gesellschaften, und einzelne Urtheile über Schriftsteller und Kunstwerke, die prächtig waren, naiv, drollig, barock, toll. Und ernsthaft setzte er alsdann hinzu: es sei viel Wahres in diesen Bemerkungen und Urtheilen, und er habe manches von den Damen gelernt.

Noch eine Anekdote mag mitgetheilt werden, weil sie uns ungemein ergötzte durch die Weise, in welcher sie erzählt wurde. Ich will sie mit Goethes Worten 39 wiedergeben; die Weise muß freilich ein Jeder hinzudenken.

»In meiner Art auf und ab wandelnd, war ich seit einigen Tagen an einem alten Manne von etwa 78 bis 80 Jahren häufig vorübergegangen, der auf sein Rohr mit einem goldenen Knopfe gestützt dieselbe Straße zog, kommend und gehend. Ich erfuhr, es sei ein vormaliger hochverdienter General aus einem alten, sehr vornehmen Geschlechte. Einige Male hatte ich bemerkt, daß der Alte mich scharf anblickte, auch wohl, wenn ich vorüber war, stehen blieb und mir nachschaute. Indeß war mir das nicht auffallend, weil mir dergleichen wohl schon begegnet ist. Nun aber trat ich einmal auf einem Spaziergang etwas zur Seite, um, ich weiß nicht was, genauer anzusehen. Da kam der Alte freundlich auf mich zu, entblößte das Haupt ein wenig, was ich natürlich anständig erwiederte, und redete mich folgendermaßen an: ›Nicht wahr, Sie nennen sich Herr Goethe?‹ – Schon recht. – ›Aus Weimar?‹ – Schon recht. – [ Gräf Nr. 1062: ›Nicht wahr, Sie haben Bücher geschrieben?‹ – O ja. – ›Und Verse gemacht?‹ – Auch. – ›Es soll schön sein.‹ – Hm! – ›Haben Sie denn viel geschrieben?‹ – Hm! es mag so angehen. – ›Ist das Versemachen schwer?‹ – So, so! – ›Es kommt wohl halter auf die Laune an? ob man gut gegessen und getrunken hat, nicht wahr?‹ – Es ist mir fast so vorgekommen. – ›Na schauen S'! da sollten Sie nicht in Weimar 40 sitzen bleiben, sondern halter nach Wien kommen.‹ – Hab' auch schon daran gedacht. – ›Na schauen S'! in Wien ist's gut; es wird gut gegessen und getrunken.‹ – Hm! – ›Und man hält was auf solche Leute, die Verse machen können.‹ – Hm! – ›Ja, dergleichen Leute finden wohl gar – wenn S' sich gut halten, schauen S', und zu leben wissen – in den ersten und vornehmsten Häusern Aufnahme.‹ – Hm! ›Kommen S' nur! Melden S' sich bei mir, ich habe Bekanntschaft, Verwandtschaft, Einfluß. Schreiben S' nur: Goethe aus Weimar, bekannt von Karlsbad her. Das letzte ist nothwendig zu meiner Erinnerung, weil ich halter viel im Kopf habe.‹ – Werde nicht verfehlen. – ›Aber sagen S' mir doch, was haben S' denn geschrieben?‹ – Mancherlei, von Adam bis Napoleon, vom Ararat bis zum Blocksberg, von der Ceder bis zum Brombeerstrauch. – ›Es soll halter berühmt sein.‹ – Hm! Leidlich. ] – ›Schade, daß ich nichts von Ihnen gelesen und auch früher nichts von Ihnen gehört habe! Sind schon neue verbesserte Auflagen von Ihren Schriften erschienen?‹ – O ja! Wohl auch. – ›Und es werden wohl noch mehr erscheinen?‹ – Das wollen wir hoffen. – ›Ja, schauen S', da kauf' ich Ihre Werke nicht. Ich kaufe halter nur Ausgaben der letzten Hand; sonst hat man immer den Ärger, ein schlechtes Buch zu besitzen, oder man muß dasselbe Buch zum zweiten Male kaufen; darum warte ich, um sicher zu gehen, immer den Tod 41 der Autoren ab, ehe ich ihre Werke kaufe. Das ist Grundsatz bei mir, und von diesem Grundsatz kann ich halter auch bei Ihnen nicht abgehen.‹ – Hm!« –

Die Sitzung dauerte bis gegen 1 Uhr. Etwa in der letzten halben Stunde wurde die Unterhaltung matter, ja flau. Endlich sah Goethe nach der Uhr. Wir erhoben uns. Goethe sagte alsdann noch jedem einzelnen einige verbindliche Worte; zu mir sagte er: »Es freuet mich wirklich, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hoffe, das wird weiter führen. Sie werden gewiß oft nach Weimar kommen, alsdann bitte ich, mich zu besuchen. In Jena wird es Ihnen schon gefallen, wenn Sie sich nur erst gewöhnt haben.« Nach diesen Worten, welche ich so gut, als ich vermochte, beantwortete, wandte er sich ab und ging ein paar Schritte weiter, drehte sich aber sogleich wieder um: »Man muß nichts verschieben. Mit einem neuen Freunde muß man doch auch ein ernstes Wort sprechen, und dazu sind wir heute nicht gekommen. Die Nachwirkung des Bades hat uns auf tolle Dinge gebracht und das ist für alle recht gesund gewesen. Ich reise aber erst übermorgen nach Weimar [?] und habe morgen den Morgen frei. Kommen Sie früh zu mir.« Er bestimmte 8 Uhr. Hierauf gingen wir vier Gäste zusammen nach der Stadt zurück, aber in tiefem Schweigen. Am Thore trennten wir uns; Goethe und Riemer gingen um den Graben, Hufeland und ich in die Stadt und nach der Sonne.