15/4346. An Johann Friedrich Reichardt
Nicht Jedermann zieht von seinen Reisen solchen Vortheil, als ich von meiner kleinen Abwesenheit.
Da ich von der nahfernen Grenze des Todtenreichs zurückkehrte, begegneten mir gleich so viele Theilnehmende, 176 welche mir die schmeichelhafte Überzeugung gaben, daß ich sonst nicht allein für mich, sondern auch für Andere gelebt hatte. Freunde und Bekannte nicht allein, sondern auch Fremde und Entfremdete, bezeigten mir ihr Wohlwollen und, wie Kinder ohne Haß geboren werden, wie das Glück der ersten Jahre darin besteht, daß in ihnen mehr die Neigung als die Abneigung herrscht; so sollte ich auch bey meinem Wiedereintritt ins Leben dieses Glücks theilhaft werden, mit aufgehobenem Widerwillen eine neue Bahn anzutreten.
Wie angenehm Ihr Brief mir, in diesem Sinne, war, sagen Sie sich selbst, mit der Herzlichkeit, mit der er geschrieben ist. Ein altes gegründetes Verhältniß wie das unsrige konnte nur, wie Blutsfreundschaften, durch unnatürliche Ereignisse gestört werden. Um so erfreulicher ist es, wenn Natur und Überzeugung es wieder herstellt.
Von dem was ich gelitten habe weiß ich wenig zu sagen. Nicht ganz ohne vorhergehende Warnung überfiel mich, kurz nach dem neuen Jahre, die Krankheit und bekämpfte meine Natur, unter so vielerley seltsamen Formen, daß meine Genesung, selbst den erfahrensten Ärzten, auf einige Zeit, zweifelhaft werden mußte. Neun Tage und neun Nächte dauerte dieser Zustand, aus dem ich mich wenig erinnere. Das glücklichste war, daß in dem Augenblicke, als die Besinnung eintrat, ich mich selbst ganz wieder fand.
177 Man erzählt von Hallern daß, als er einmal eine Treppe herunter und auf den Kopf gefallen war, er sogleich, nachdem er aufgestanden, sich die Nahmen der chinesischen Kaiser nach der Reihe hergesagt, um zu versuchen, ob sein Gedächtniß gelitten habe.
Mir ist nicht zu verdenken, wenn ich ähnliche Proben anstellte. Auch hatte ich Zeit und Gelegenheit in den vergangnen vierzehn Tagen mir manche von den Fäden zu vergegenwärtigen, die mich ans Leben, an Geschäfte, an Wissenschaft und Kunst knüpfen. Keiner ist abgerissen wie es scheint, die Combination geht wie vor Alters fort, [ Gräf Nr. 1007: und die Production scheint auch in einem Winkel zu lauren , um mich vielleicht bald durch ihre Wirkungen zu erfreuen. ]
Doch wollen wir uns indeß als Genesende behandeln und, zufrieden mit einer so baldigen Wiederherstellung, nach einem so großen Übel, in geschäftigem Müßiggang dem Frühjahr entgegenschlendern.
Das erste höhere Bedürfniß, was ich nach meiner Krankheit empfand, war nach Musik, das man denn auch, so gut es die Umstände erlaubten, zu befriedigen suchte. Senden Sie mir doch ja Ihre neusten Compositionen, ich will mir und einigen Freunden damit einen Festabend machen.
Empfehlen Sie mich dankbar bekannten und unbekannten Wohlwollenden und Theilnehmenden in Berlin.
Ich wünsche nichts mehr, als so vielen Freunden, die auf meine Existenz einen Werth setzen, auch künftig zur Freude und zum Nutzen zu leben.
Nehmen Sie wiederholten Dank für Ihre Annäherung in diesem Zeitpunct und genießen einer dauerhaften Gesundheit.
Weimar am 5. Februar 1801.
Goethe.