Man darf wohl bei diesen Worten in erster Reihe an den zweiten Teil des „Faust“ denken, an dem in der ersten Hälfte dieses Jahres die letzte Hand angelegt wurde. Vier Tage nach jenem Brief an Carlyle ließ Goethe seinen Mitarbeiter nach Tisch „etwas frisch Producirtes lesen“; es war der bisher fehlende Anfang des 5. Aktes, wie die „Gespräche mit Goethe“ unterm 6. Juni verraten, und am folgenden Tag gab Goethe seinem „genügsamen Leser“ den „5. Aufzug von Faust mit“. An den folgenden Tagen wird noch viel darüber gesprochen worden sein, auch wenn Goethes Aufzeichnungen das nicht ausdrücklich erwähnen. „Fortsetzung mancherlei wichtiger Betrachtungen“ am 10. Juni bezeichnet gewiß eine dieser Aussprachen über den „Faust“, denn Goethe wünschte, das Urteil des ersten Lesers zu hören. Bald nach der Wiederaufnahme der gemeinsamen Arbeit, Anfang Dezember 1830, hatte ihm Goethe das „Manuskript von Faust“ zur Lektüre gegeben; am 12. brachte Eckermann es zurück. „Das darin ihm Unbekannte wurde besprochen, die letzten Pinselzüge gebilligt“, meldet das Tagebuch. Am 13. wurde die „klassische Walpurgisnacht besprochen“, die Eckermann über Nacht gelesen hatte, am 14. nochmals und eingehend, und die „litterarischen Unterhaltungen“ am 15. und 58816. werden ebenfalls den „Faust“ zum Mittelpunkt gehabt haben. Den „Abschluß“ der Dichtung mußte Eckermann am 17. Dezember mitnehmen; es bedarf gar nicht der Bestätigung durch Goethes Tagebuch, daß sich auch an diese Lektüre weitere Unterhaltungen knüpften, und wenn Goethe unterm 18. Juli 1831 mit Genugtuung und Freude Eckermanns „Vergnügen am Gelingen der Hauptvorsätze“ statuiert, so war unter diesen „Hauptvorsätzen“ keiner wichtiger als die Vollendung des „Faust“, dessen Manuskript um diese Zeit abgeschlossen vorlag und im August eingesiegelt wurde, um erst nach dem Tode des Dichters in den Nachlaßbänden veröffentlicht zu werden. Ob diese Unterhaltungen über „Faust“, dessen langsames Reifen Eckermann seit 1823 beobachten durfte, ausreichenden Stoff zu einem vierten Band der „Gespräche“ geboten hätten, wer möchte das entscheiden? Der Nachwelt bleibt nur das Bedauern, daß Eckermann diesen Plan, mit dem er sich bis zu seinem Lebensende trug, nicht mehr auszuführen vermochte, und daß nur einige spärliche Fragmente davon niedergeschrieben wurden. Von diesen Fragmenten sei ein bisher unbekanntes mitgeteilt, da der hier geschilderte Vorgang dem Sommer 1831 angehören dürfte:
[ Biedermann-Herwig Nr. 7065: „Goethe übergab mir heute das Manuscript des zweiten Theiles seines Faust, um es nebst seinem übrigen Nachlaß einstens1) herauszugeben. ‚Sie 589lesen es wohl noch einmal‘, sagte er, ‚und bemerken wohl was Ihnen etwa auffällt, damit wir es nach und nach in’s Reine bringen. Ich wünsche übrigens nicht daß es [vor der Publication] 1) jemand anders lese. Sie 2) wissen ich habe Zelter davon Einiges gezeigt; aber sonst kennt es außer Ottilien und Ihnen niemand. Anderen guten Freunden, die nach dem Manuscript einige Neugierde verriethen3), habe ich weißgemacht ich hätte es mit sieben Siegeln belegt und fest verschlossen. Wir wollen es dabei bewenden lassen, damit ich nicht ferner geplagt werde.‘“ ]
Das Manuskript gehört nach Bleistiftschrift und Papier Eckermanns letzten Lebensjahren an. Es sollte einen Abschnitt der besonderen Unterhaltungen über den „Faust“ beginnen. Das fehlende Datum dachte er vielleicht mit Hilfe der Goetheschen Tagebücher nachträglich einsetzen zu können. Er wollte nur den Vorgang skizzieren, der nicht uninteressant ist; ob die Einsiegelung des Manuskripts zu „Faust II.“, von der in der Tat mehrere Briefe Goethes sprechen, überhaupt oder doch einige Zeit lang ein von ihm selbst verbreitetes Märchen war, um vor Neugierigen und Teilnehmenden Ruhe 590zu haben, das festzustellen muß einer Spezialuntersuchung überlassen bleiben. –