[ Biedermann-Herwig Nr. 6524: Goethe1 sagte mir vor einigen Tagen, er habe die Lektüre der Erinnerungen Saint-Simons abgebrochen und zwar beim Tode Ludwigs XIV. Das erste Dutzend Bände hat ihn lebhaft interessiert durch den Gegensatz zwischen den Launen des Herrschers und der tapferen Festigkeit des Aristokraten und Dieners. „Von dem Augenblick aber,“ erklärte er, „wo ‚der 391Tyrann‘ verschwindet und an seine Stelle ein übles Subjekt tritt, neben dem St. Simon sich nicht mehr gut ausnimmt, verlor ich die Lust daran, mir ekelte, und ich verließ das Buch da, wo mich der Tyrann verließ.“
Goethe hat so seine Schrullen. Monate hindurch hat er mit größter Ausdauer den „Globe“ und den „Temps“ gelesen, und plötzlich, seit etwa vierzehn Tagen, sieht er sie nicht mehr an und stapelt die Nummern auf, ohne sie zu öffnen; er versiegelt sie sogar, um zu zeigen, daß er sie nicht liest, versichert aber seinen Freunden, es sei ihm sehr lieb, wenn sie ihm erzählten, was in der Welt vorgehe. Dieser plötzliche Entschluß ist, vermute ich nicht ohne Grund, anders zu erklären als nur aus dem Wunsch, auszuruhen oder seinen Geist in anderer Richtung zu beschäftigen . Klug wie er ist, dürfte er weiter dabei denken. Die Umstellung fiel fast genau mit dem Augenblick zusammen, wo der „Globe“ Tageszeitung wurde und in der ersten Nummer einen boshaften Artikel brachte, um eine gerichtliche Verfolgung herauszufordern; alles, was revolutionär aussieht, ist Goethe zuwider; er will sich vielleicht nicht den Schein geben, als ob er auch nur indirekt, indem er diese Blätter weiterliest, ihre unreifen Ausfälle billige. In einem ruhigeren Zeitpunkt wird er wieder darauf zurückkommen; wenigstens ließ noch kürzlich nicht das geringste auf eine so vornehme Gleichgültigkeit schließen; im Gegenteil, zu mir sagte er, er freue sich sehr, daß er demnächst den „Globe“ täglich bekomme und daß er ihn dann immer abends mit seinem Freunde, dem „Temps“, vergleichen könne. [Vgl. dazu Goethes Tagebuchnotiz vom 25. Februar und Sorets Erinnerungen vom 5. April 1830.]
Ich gebe noch etliche Einzelheiten aus diesem langen Gespräch [vom 5. März], die mir später wieder eingefallen sind, als ich es zu Papier brachte.
Die gegenwärtigen literarischen Zustände Frankreichs kamen zur Sprache; er beschäftigte sich sehr viel damit. Er ist der festen Meinung, die jetzige literarische Revolution, die man in Frankreich als etwas Neues empfinde, sei im Grunde nichts weiter als der Widerschein dessen, was die deutsche Literatur seit fünfzig Jahren geworden sei. „So liegt z. B.,“ erklärte er, „der Keim zu den historischen Schauspielen, die bei unsern 392Nachbarn als etwas Funkelnagelneues gelten, seit einem halben Jahrhundert in meinem ‚Götz!‘ Übrigens,“ setzte er hinzu, „haben die deutschen Schriftsteller nie unter dem Gesichtspunkt geschaffen oder darauf hingearbeitet, auf die Franzosen Einfluß zu gewinnen; an die haben sie nie gedacht. Ich besonders war auch darin immer ein unverfälschter Deutscher; erst ganz neuerdings bin ich darauf verfallen, wissen zu wollen, was man jenseits des Rheines von mir hält, aber von einem Einfluß der französischen Literatur auf meine letzten Arbeiten ist bis heute nichts zu verspüren. Selbst Wieland, der ihren Stil und ihre Formen so weit nachahmte, daß wir ihn nur schwer noch lesen können, hat doch im Grunde nichts Französisches und kann in dieser Sprache nicht echt wiedergegeben werden.“ ]